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Anklage

Anklage

Titel: Anklage
Autoren: Markus Schollmeyer
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ist dem Urteil des Haftrichters ausgeliefert. Tragisch ist das, wenn beispielsweise durch einen Ermittlungsfehler ein zu unrecht Beschuldigter in Untersuchungshaft verbleiben muss. Aber so ist die derzeitige Realität vor deutschen Gerichten.

    Haftrichter und Staatsanwalt sahen mich aufmerksam an, und nun kam auch mein Selbstbewusstsein zurück - gerade noch rechtzeitig. Die Wirkung meiner Argumente konnte ich nicht genau vorhersagen, denn es war ja meine erste Haftprüfung und auch die erste Verhandlung vor diesem Richter überhaupt. Während meiner Zeit in einer amerikanischen Anwaltskanzlei hat man mir in solchen Situationen den Leitspruch mitgegeben: »Don’t hesitate! Attack and fight for yourself!« (Zögere nicht, greif an und kämpfe für dich selbst.) Und genau das tat ich.
    Das Gesicht des Staatsanwalts verfinsterte sich mit jedem meiner Worte. Er legte seine Stirn in tiefe Zornesfalten und umklammerte seinen Kugelschreiber wie ein Schwert, während ich dem Gericht die Ermittlungsprobleme aus meiner Sicht darlegte. Meine Ausführungen basierten auf den Erkenntnissen der Aussagepsychologie, die Zeugenaussagen vor Gericht auf deren Wahrheitsgehalt und die Glaubwürdigkeit des Zeugen selbst zum Thema hat. In Verfahren des sexuellen Missbrauchs von Kindern kam diese Methode besonders häufig zum Einsatz,
denn es gab Erkenntnisse, dass Aussagen von Kindern gerade in Missbrauchsfragen nicht immer widerspruchslos geglaubt werden können.
    Ich zweifelte also allen Ernstes die Glaubwürdigkeit der Kinder an, obwohl mir mein Mandant zwei Fälle gestanden hatte. Ich habe mich in diesem Augenblick nicht hinterfragt, ich wollte gewinnen, sonst nichts. Und schließlich sollte ein Verdächtiger so lange frei sein dürfen, bis die Taten zweifelsfrei bewiesen werden können. Wenn die Staatsanwaltschaft nachlässig ermittelt und ohne Glaubwürdigkeitsgutachten eine Inhaftierung anstrebt, dann darf das nicht zulasten meines Mandanten gehen. Zugegeben - diese sehr amerikanische Sicht der Dinge ist in unserem Land nicht weit verbreitet. Aber die Unschuldsvermutung steht auch bei uns im Gesetz. Hieb- und stichfeste Beweise gegen meinen Mandanten gab es nicht. Das wusste der Staatsanwalt und natürlich auch der Haftrichter.

    Schließlich sagte der Haftrichter betont ruhig: »Sie möchten also auf die gute alte Unschuldsvermutung hinaus. Schön, das ist sicher bei der Beweislage nicht abwegig, aber ich habe eine Verantwortung. Eine Verantwortung, dass so etwas nicht mehr passiert. Und deshalb möchte ich Ihren Mandanten lieber in Haft sehen!«
    Das war meine Chance. »Herr Vorsitzender, auch ich sehe diese Verantwortung«, antwortete ich genauso ruhig, »aber wir sollten auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht so stiefmütterlich behandeln.«
    Dieser Grundsatz besagt, dass Haft immer nur das letzte Mittel sein darf. Gibt es andere Möglichkeiten, den gleichen Effekt zu erzielen, dann mussten diese angewendet werden.
    Dann fuhr ich fort: »Wie Sie wissen, wohnt mein Mandant in einem kleinen, abgelegenen Dorf mit weniger als vierhundert Einwohnern. Er ist also fast isoliert. Wenn man nun in den örtlichen
Tageszeitungen und in den Gemeindenachrichten eine Mitteilung veröffentlicht, die den Verdacht beschreibt und allen Eltern den Rat gibt, bis zu einer Gerichtsverhandlung ihre Kinder nicht mehr in die Nähe des Hofs des Beschuldigten zu lassen, ihm gleichzeitig die Fahrerlaubnis mit Ausnahme des Führens landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge entzieht, dann könnte, ja, müsste mein Mandant auf freien Fuß kommen. Selbstverständlich übernimmt er alle anfallenden Kosten.« Der Haftrichter dachte nach, der Staatsanwalt schüttelte den Kopf und sagte nur, dass das nicht gehe. Argumente hatte er keine.
    »Geben Sie mir bitte einige Minuten«, murmelte der Richter,
    »ich muss mir meine Gedanken dazu machen.«
    Er stand auf und ging aus dem Saal.

    Als er nach 40 Minuten zurückkam, sagte er an meinen Mandanten gewandt: »Also, ich habe gerade die schwerste Entscheidung meines Lebens getroffen. Noch nie musste ich das Freiheitsrecht gegen meine schlimmsten Befürchtungen abwägen. Ich habe mich für unser Gesetz und gegen die Angst entschieden. Ich lasse Sie frei, aber erst ab dem Tag, an dem die Annoncen tatsächlich veröffentlicht werden. Die ausführliche Begründung können Sie schriftlich haben, wenn Sie darauf bestehen.«
    Der Staatsanwalt knurrte etwas von »unverantwortlich« und »enttäuscht«, verzichtete aber
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