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Anklage

Anklage

Titel: Anklage
Autoren: Markus Schollmeyer
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ich in dieser Zeit schlecht schlafen und wachte häufig auf. Einmal habe ich mich die ganze Nacht vor den Fernseher gesetzt und die unsinnigsten Sendungen angesehen, nur, um mich abzulenken von meinen quälenden Gedanken. Ich litt seelisch, doch ich leugnete meine Gewissensbisse und Zweifel, denn ich wollte kein Schwächling, sondern stark und erfolgreich sein. In manchen Momenten, in denen ich mit mir allein war, schämte ich mich genauso wie die Kinder. Eine Möglichkeit, außerhalb der Kanzlei über den Fall zu sprechen, hatte ich nicht. Zum einen verbot das die anwaltliche Schweigepflicht, zum anderen war ich Single und kehrte jeden Abend in eine leere Wohnung heim. So kam zur Scham Einsamkeit hinzu. Eine schreckliche Kombination. Ich arbeitete wie besessen, verbiss mich regelrecht in meine Fälle und betäubte damit das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

9
    Schließlich war es soweit. Die Hauptverhandlung stand an, bei der über meinen Mandanten, den Kinderschänder, oder besser über seine Taten zu Gericht gesessen werden sollte. Verhandelt wurde vor dem Landgericht, das keine Beschränkung bei der Strafgewalt hat. In unserem Rechtssystem darf nicht jedes Gericht jede Strafe aussprechen. Ein Amtsrichter, der allein in einer Strafsache entscheidet, darf nur Haftstrafen bis maximal zwei Jahre aussprechen. Ist er aber der Auffassung, dass es einer höheren Strafe bedarf, muss er den Fall an ein Gericht abgeben, das eine höhere Strafe verhängen kann. Vor diesem Gericht wird dann erneut verhandelt.
    Am Ende dieser Strafgewalt steht die sogenannte große Strafkammer des Landgerichts. Dort entscheiden drei Berufsrichter und zwei Schöffen - das sind normale Bürger - über die Taten. Die Schöffen erinnern ein bisschen an amerikanische Geschworene, wobei Schöffen bei Weitem nicht so viel Entscheidungsmacht haben, sondern lediglich ihre Meinung bei der Urteilsfindung der Berufsrichter kundtun dürfen. Meist geht dieser Einfluss zulasten des Angeklagten, denn der »gesunde Menschenverstand« eines Normalbürgers weicht oft nicht unerheblich von der professionellen Einschätzung gesetzesgeübter Juristen ab. Das ist wohl der größte Unterschied zu den Geschworenen in amerikanischen Prozessen, deren Befugnisse aufgrund der vielen amerikanischen Gerichtsserien und Justizthriller wohl besser bekannt sind als die Funktion der hiesigen Schöffen. Amerikanische Geschworene, die zu zwölft über einen Fall beraten, fällen den Schuldspruch allein und verhängen somit das Urteil über den Täter. Sie haben echte Entscheidungsgewalt. In der deutschen Gerichtspraxis werden die Urteile von den Berufsrichtern geprägt, die zum einen wegen
ihrer Überzahl, vor allem aber wegen ihrer juristischen Fachkenntnis federführend sind. Schöffen sind meist eher privilegierte Prozessbeobachter als Richter, so kam es mir jedenfalls immer vor.
    Die große Strafkammer, die über meinen Mandanten entscheiden sollte, war mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt.
    Für einen Straftäter ist eine Verhandlung vor dieser großen Strafkammer die gefährlichste alle Strafverhandlungen: Erstens hat das Gericht keine Beschränkung in der Strafgewalt - das heißt, es kann den gesetzlichen Strafrahmen auch voll ausschöpfen -, und zweitens gibt es gegen Urteile der großen Strafkammer kein Rechtsmittel der Berufung. Der Angeklagte hat also keine Möglichkeit mehr, den tatsächlichen Sachverhalt durch eine höhere Instanz überprüfen zu lassen. Man kann gegen solche Urteile nur eine sogenannte Revision einlegen. Eine Revision prüft aber nur, ob das Gericht die Paragrafen richtig angewendet hat. Was tatsächlich passiert ist, wird nicht mehr geprüft. Das kann schnell brandgefährlich werden! Und genau vor einer solchen großen Strafkammer wurde der Fall nun verhandelt.

    Am Verhandlungstag musste ich ein größeres Auto mieten, um alle Akten mitnehmen zu können. Auf der etwa 50 Kilometer langen Strecke zum Landgericht dachte ich unentwegt über die Verteidigungsstrategie nach. Dabei machten mir zwei Aspekte zu schaffen, und ich war mir nicht sicher, ob ich mich trauen durfte, alle Punkte des Falles in der Verhandlung aufzugreifen. Richter reagieren oft allergisch, wenn man allzu offensiv verteidigt. Wenn man dagegen den Opfern eine Aussage ersparte, dann konnte man manchmal Strafmilderung für den Täter erreichen. Für den Tatvorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern gilt das in besonderem Maß. Aber was ich in der
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