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Anklage

Anklage

Titel: Anklage
Autoren: Markus Schollmeyer
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qualmte eine Zigarette. Auch wenn man ihm den genialen Anwalt nicht ansah: Wenn er sprach und seine messerscharfen Ausführungen darlegte, seinen überragenden Intellekt
in einen Fall einbrachte oder auch einfach nur die richtigen Fragen stellte, war jedem klar, dass man es mit einem Meister des Anwaltsfachs zu tun hatte. Wer wahre Werte und echtes Können finden will, muss hinter die Fassade blicken können. Als ich dem Kollegen meine Argumentation schilderte und die Grundlagen meiner Strategie erläuterte, kam keinerlei Feedback. Das war ungewöhnlich, denn das Streitgespräch zwischen Anwälten gehört in jeder Kanzlei zum Alltag; unter Kollegen werden die unterschiedlichsten Positionen vertreten und Argumente ausgetauscht, sodass ein Fall aus allen Blickwinkeln beleuchtet und die Strategie auf mögliche Schwachstellen untersucht werden kann. Besonders in diesem Fall war ich überzeugt, mich gegen viele Gegenargumente wehren zu müssen. Doch da kam erstaunlicherweise nichts. Der Kollege blieb stumm und schaute aus seinem Bürofenster. Auch als ich mit meinen Ausführungen fertig war, herrschte Schweigen im Raum.
    »Entschuldigung«, fragte ich vorsichtig nach, »aber was halten Sie denn nun von meinen Argumenten und der Strategie?« Er zog an seiner Zigarette und sagte dann die Worte, deren Wucht mich erst viel später treffen sollte. »Den Weg müssen Sie schon allein gehen. Sie haben ihn eingeschlagen, es ist ganz allein Ihre Entscheidung gewesen. Auch ich habe solche Entscheidungen getroffen und alle Konsequenzen allein tragen müssen. Machen Sie das Beste daraus, aber vergessen Sie nicht, die Augen offenzuhalten.«
    Ich verstand nicht, was er meinte. Mein erster Gedanke war, dass er sich nicht festlegen wollte, um eine falsche Antwort zu vermeiden. Mein zweiter, dass er vielleicht neidisch war, weil er den Fall selbst gern gehabt hätte. Erst später erkannte ich, wie dumm diese beiden Annahmen waren. Daran, dass er den Fall abgelehnt hatte und dann erst ich damit beauftragt wurde, habe ich keinen Gedanken verschwendet. Doch in
Wirklichkeit war es so gewesen. Hätte ich das in Erwägung gezogen, dann wäre mir vielleicht auch klar geworden, dass ich nur deshalb keine Antwort bekommen habe, weil ich ihn enttäuscht hatte - weil ich mich in seinen Augen gegen die Gerechtigkeit entschieden hatte.
    Das Gespräch endete mit Höflichkeitsfloskeln. Es war das erste und einzige Mal, dass ich mich vergeblich an diesen Kollegen wandte, dessen Urteil mir sehr viel bedeutete.

    Am Ende des Tages ging ich früher nach Hause, um mich für die kommende Anhörung vor dem Haftrichter auszuschlafen. Leider habe ich die ganze Nacht kein Auge zu getan. Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, fühlte ich mich wie gerädert. Auch eine kalte Dusche half nichts, und außer einer Tasse Kaffee konnte ich nichts zu mir nehmen.

7
    Die Haftprüfung fand in den Räumen des Amtsgerichts statt. Zum ersten Mal, seit ich den Fall übernommen hatte, war ich nervös. Vor Aufregung hatte ich keinen Bissen hinuntergebracht und war zu früh im Amtsgericht. Immer wieder ging mir nur ein Gedanke durch den Kopf: Würde ich es schaffen, mit meinen Argumenten meinen Mandanten aus der Untersuchungshaft zu holen? Ein Gefühl der Unsicherheit beschlich mich, das ich unbedingt in den Griff bekommen musste. Sonst würde ich meine Argumente nicht mit der notwendigen Überzeugungskraft vorbringen können. Ich musste wieder so bedingungslos an mich glauben, wie ich das die ganze Zeit zuvor getan hatte. Nur dann hatte ich eine Chance. Ich schwitzte. Woher kam die Unsicherheit so plötzlich? Ich hatte mich gut vorbereitet, und meine Strategie saß. War es der Verrat an der Gerechtigkeit, der sich bemerkbar machte? »Nein, das ist doch wirklich absurd«, redete ich mir ein, »es ist ein großer Fall, da ist es ganz normal, dass man nervös wird.« Meine ganze Konzentration galt fortan der Rückgewinnung meiner Selbstsicherheit. Mein Blick fiel auf die große Wanduhr, die im Gerichtsgebäude hing. Ich hatte noch zwei Minuten, dann würde es losgehen. Ich musste zu mir finden. Andernfalls wäre ich ein Verlierer, und das wollte ich auf keinen Fall sein. Soviel war sicher.

    Als sich die Tür öffnete und mein Mandant hereingeführt wurde, war ich noch immer nicht der Alte. Mir musste dringend etwas einfallen. Der Staatsanwalt saß bereits an seinem Platz. Er las noch in einem Fachbuch und beachtete mich nicht. So konzentrierte ich mich, so gut ich konnte, und
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