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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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Sekretärin. Der Zeitplan war perfekt.
Dianne und ich standen kurz vor der Einschulung, so dass Glass
halbtags arbeiten konnte. Später, als wir gelernt hatten, uns
selbst zu versorgen, übernahm sie den Job ganztags. Dann stieg
sie morgens in ihr Auto – der alte Ford von Terezas Vater – und
kehrte am frühen Abend zurück, stets mit einem kleinen
Geschenk für uns: giftgrüne, klebrige Dauerlutscher, ein
schmales Bilderbuch, eine Schallplatte, die vom vielen
Abspielen bald zerkratzt war.
    Wenn Dianne und ich aus der Schule nach Hause kamen,
wärmten wir tags zuvor zubereitete Mahlzeiten auf. Wir
benötigten weder Ermahnungen noch Aufsicht, um unsere
Hausaufgaben zu erledigen. Freie Zeit verbrachten wir fast
ausnahmslos draußen, im Dschungel des Gartens, in den an das
Anwesen angrenzenden Wäldern oder am nahen Fluss. Glass
war stolz auf unsere Eigenständigkeit. Da sie mehr als einmal
darauf hinwies, dass von ihrem Job unsere Existenz abhing,
wagten Dianne und ich nicht ihr anzuvertrauen, dass wir uns,
allein gelassen in dem großen Haus, vor Visible fürchteten. Die
verwinkelten Zimmer, viele davon ungenutzt, die unendlich
langen, sich verzweigenden Flure, die hohen Wände, von denen
beim leisesten Schritt kleine, sich ins Unendliche fortpflanzende
Echos widerhallten – all das war uns nicht geheuer. Visible war
unheimlich, ein düsteres, hohles Gehäuse, und nichts erfüllte
uns mit mehr Schrecken, als wenn Glass uns vorschlug, darin
Verstecken zu spielen. Dianne und ich besaßen ein
gemeinsames Zimmer im Erdgeschoss; erst später, als wir die
Rückzugsmöglichkeiten in die Stille und Leere der oberen
Stockwerke zu schätzen gelernt hatten, richteten wir uns, jeder
für sich, dort ein. Ich nahm mir ein Zimmer, das eine
unbegrenzte Aussicht über den Fluss hinweg auf die Stadt bot,
die an den Hängen des Schlossbergs lag, dessen Spitze
wiederum von einer nichts sagenden Burg aus dem frühen
Mittelalter gekrönt war. In diesem Zimmer stellte ich fest, dass
ich über eine gänzlich andere Mentalität verfügen musste, als
Stella sie besessen hatte, denn der Blick durch die hohen
Fenster auf die dahinter liegende Welt war mir nie weit genug.
    DAS KALTE WASSER der Dusche hat mich auf Trab
gebracht. Ich ziehe Shorts und T-Shirt an und gehe durch den
labyrinthischen Flur zur geschwungenen Treppe, die nach unten
in die Eingangshalle führt. Weder von Dianne noch von Glass
ist etwas zu sehen oder zu hören. Vielleicht haben beide vor der
unbarmherzigen Sommerluft kapituliert und schlafen.
    Sobald ich ins Freie trete, schlägt mir die Hitze ins Gesicht.
Ich schnappe mir mein an der Hauswand lehnendes Fahrrad und
lasse mich die holprige, unbefestigte Auffahrt hinabrollen.
    Der Garten hat Ähnlichkeit mit einem wogenden Getreidefeld.
Zu beiden Seiten der Auffahrt kämpft meterhohes Gras mit
farbenprächtigen Wiesenpflanzen um einen Platz an der Sonne.
Wilder Efeu krallt sich in die Rinde von alten Obstbäumen und
Pappeln, hangelt sich an den Stämmen nach oben und klettert
über die Regenrinne zum Haus, um dort in Kaskaden wieder
herabzufallen.
    Während der ersten fünf oder sechs Jahre in Visible bemühte
sich Glass, diesen Wildwuchs zu zähmen, den Urwald zu
unterwerfen und eine Art Garten anzulegen. Ihre
Gefechtskleidung bestand aus einer grünen Kittelschürze, rosa
Plastikhandschuhen und gleichfarbigen Gummistiefeln; ihre
Waffen waren Gartengeräte, die ausgereicht hätten, die Wüste
Nevadas in fruchtbares Land zu verwandeln. Dianne und ich,
unsererseits ausgestattet mit kleinen, eisernen Hacken und
Schippchen, umwuselten ihre Beine, wenn unsere Mutter zum
Kampf ausrückte, und hielten uns stets in ihrer Nähe auf. Doch
alles Zupfen, alles Jäten und Roden war vergebens, der
heroische Kampf gegen das standhafte Heer von Unkraut zum
Scheitern verurteilt.
    »Als würde die Natur sich gegen mich wehren«, beschwerte
sich Glass, wenn sie abends erschöpft und müde am
Küchentisch saß, die Hände trotz der Plastikhandschuhe mit
Blasen übersät. »Wo ich diese Scheißpflanzen haben will,
wachsen sie nicht, und wo ich sie loswerden will, schießen sie
ins Kraut!«
    Sie stellte einen Gärtner ein, stundenweise. Martin war kaum
älter als Glass, ein junger Mann mit schwarzem Haar und
strahlenden grünen Augen. Er kam Gott weiß woher, und genau
dorthin verschwand er auch wieder. Dianne machte von Anfang
an keinen Hehl daraus, dass sie ihn nicht ausstehen
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