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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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konnte, und
ging ihm aus dem Weg, aber ich war von Martin begeistert.
Wenn er an heißen Sommertagen nach getaner Arbeit von
draußen in die kühle Küche kam, wo Glass ihm geeiste
Limonade servierte, setzte ich mich auf seinen Schoß und
verbarg mein Gesicht in seinem nass geschwitzten Unterhemd.
Ich mochte den Duft, den er verströmte, er roch nach Gras und
dem offenen blauen Himmel. Während er mit Glass sprach,
kraulten seine Hände meinen Nacken, die Finger trocken und
angenehm weich, trotz der harten Gartenarbeit. Später, wenn
Martin duschte und mir dabei Geschichten erzählte, sein Lachen
nie weiter entfernt als das Ende des nächsten Satzes, die Haut
glänzend von abperlendem Wasser, saß ich auf dem
heruntergeklappten Klodeckel, den Kopf in die Hände gestützt,
und betrachtete seine kräftigen Arme, die breiten,
sonnengebräunten Schultern und die Stelle, an der seine
schlanken Beine zusammenliefen. Das Handtuch, mit dem er
sich trockenrieb, nahm ich beim Schlafengehen heimlich mit in
mein Bett, wo ich es als Decke benutzte. Dass Glass wie
selbstverständlich Martin mit in ihr Bett nahm, erfüllte mich mit
einer bis dahin nicht gekannten Eifersucht, die mir nächtelang
den Schlaf raubte.
    Falls Dianne all das registrierte, fiel es mir nicht auf. Erst
viele Jahre später wuchs in mir die Gewissheit, dass ihr damals
selbst das kleinste Detail nicht entging und dass meine
Zwillingsschwester ebenso schlaflose Nächte verbrachte wie
ich, wenn auch aus einem völlig anderen Grund: Dianne hasste
Glass wegen ihrer Männergeschichten.
DUMBO AUF DEM TURM
    KAT UND ICH sitzen nebeneinander auf der Schlossmauer.
Unsere Beine baumeln über die Brüstung, an der ein warmer
Luftzug emporsteigt. Unter uns liegt die Stadt – ausgebreitet
wie eine bunt gemusterte Karte, begrenzt von bewaldeten
Hügeln, eingefasst vom dreifach gewundenen, blau
schimmernden Band des Flusses. In den drei Wochen von Kats
Abwesenheit hat es mich oft hierher gezogen. Es beruhigt mich,
die Welt so klein zu sehen.
    »Kein Geigenunterricht heute?«
»Nicht am ersten Tag nach dem Urlaub. Aber üben müsste
ich.« Kat sieht mich von der Seite an. »Ob du es glaubst oder
nicht, ich hab das Spielen richtig vermisst.«
»Du hättest das Ding ja mitnehmen können.«
Kat schüttelt den Kopf, wie in nachträglicher
Fassungslosigkeit. »Weißt du, ich hab mal was im Fernsehen
über Malta gesehen: den Brückenkopf zwischen Afrika und
Europa. Kreuzritter und so ein Zeugs. Und Windmühlen. Im
Fernsehen haben sie Windmühlen gezeigt. O Mann, und dann
diese beschissenen Deckchen, die sie da überall und ständig
häkeln…«
»Wie waren die Typen? Die Malteser?«
Der Knuff, den sie mir versetzt, katapultiert mich um ein Haar
ins Leere. Von hier oben bedeutet ein Sturz fünfzehn Meter
freien Fall und eine Landung zwischen hohen Brennnesseln.
»Hey..!«
»Selbst Schuld. Mann! Ich erzähle dir hier meine
Passionsgeschichte, und du denkst nur an die Typen!«
»Komm schon.«
»Okay.« Ihr Grinsen entblößt eine breite Zahnlücke zwischen
den oberen Schneidezähnen, die seit Jahren erfolgreich dem
nächtlichen Einsatz einer Klammer trotzt. »Sie waren hässlich
und hatten dicke, breite Ärsche – reicht das? Außerdem hat
Daddy mich bewacht wie eine Bulldogge, ich meine, selbst
wenn ich etwas gewollt hätte -«
»- hättest du dich dabei von niemandem abhalten lassen. Auch
nicht von deinem Vater.«
»Ach komm, du weißt schon.« Ich erhalte einen weiteren
Knuff.
»Vorsicht, ja? Du tust gerade so, als könntest du dir deine
Freunde aussuchen.«
»Er hat Mama und mich völlig fertig gemacht, wie immer,
ehrlich. Kulturterror und all das. Du kannst froh sein, dass du
keinen Vater hast.«
Kats Augen suchen einen unbestimmten Punkt irgendwo
hinter dem Horizont. Sie weiß, dass sie keine Antwort von mir
erwarten kann. Wenn es um ihren Vater geht – wenn es um
irgendeinen Vater geht -, fühle ich mich hilflos, dem Thema
nicht gewachsen. Ich denke nicht gern darüber nach. Tue ich es
doch, beschleicht mich ein Gefühl, das dem gleicht, das in mir
beim Gedanken an einen Sturz von dieser Mauer aufkommt. Mit
dem Unterschied, dass ich bei einem Sturz wüsste, was mich
unten erwartet.
Als hätte sie meinen Gedanken erraten, sagt Kat: »Warum
erzählst du nie etwas von Nummer Drei?«
»Weil es nichts zu erzählen gibt«, sage ich genervt. Wann
immer sie sich bisher nach meinem Vater erkundigt hat, habe
ich ihr einsilbige
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