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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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sich entnervend
langsam aufzuheizen. Ich drehe den Wasserhahn auf, lausche
dem vertrauten asthmatischen Pfeifen der Leitung und bedauere
nicht zum ersten Mal, dass Glass sich nie mit einem Klempner
eingelassen hat.
»Wegen der Rohrleitungen?«, hat sie erstaunt gefragt, als ich
sie irgendwann auf die praktischen Möglichkeiten einer solchen
Liaison angesprochen habe. »Wofür hältst du mich, Darling –
für eine Nutte?«
    VISIBLES ARCHITEKT muss genauso verrückt gewesen
sein wie meine Tante Stella, die vor über einem
Vierteljahrhundert das bereits im Verfall begriffene Haus
während einer Reise durch Europa entdeckt, sich in seinen für
diesen Teil der Welt völlig untypischen Südstaaten-Charme
verliebt und es auf Anhieb gekauft hatte. Für eine Hand voll
Peanuts, Kleines, schrieb sie damals Glass begeistert und stolz
nach Amerika. Ich habe sogar etwas Geld übrig, um es in die
dringend notwendige Renovierung zu stecken!
    Stella war finanziell unabhängig. Sie hatte die typische
Karriere amerikanischer Highschool-Schönheiten hinter sich,
die sich über ihre Zukunft erst dann Gedanken machen, wenn
diese schon im Begriff ist, Vergangenheit zu werden: frühe
Heirat, frühe Scheidung, zu spät eintrudelnde, aber relativ
großzügige Unterhaltszahlungen. Große Sprünge konnte Stella
mit dem Geld nicht machen, aber es reichte für ein halbwegs
sorgenfreies Leben. Es reichte für den Kauf von Visible.
    Das von einem weitläufigen Grundstück umgebene Haus
stand, wie Stella an Glass schrieb, auf einer Anhöhe am
äußersten Rand einer winzigen Stadt, jenseits des Flusses. Die
zweigeschossige Fassade mit dem säulengestützten Vorbau, die
kleinen Erker und die hohen Flügelfenster, das von unzähligen
Giebeln und Zinnen gekrönte Dach: All das war auf Kilometer
gut sichtbar für jeden. Folgerichtig nannte Stella, auf der Suche
nach einem passenden amerikanischen Namen, das gesamte
Anwesen – das Haus, den dahinter liegenden Holz- und
Geräteschuppen sowie den weitläufigen, an den Wald
angrenzenden Garten, in dem mannshohe Statuen aus
verfärbtem Sandstein wie erstarrte Wanderer herumstanden –
Visible. Wie sich schnell herausstellte, reichte nach dem Kauf
Visibles das übrige Geld kaum aus, auch nur einen Bruchteil der
Renovierungskosten zu decken. Das Mauerwerk bröckelte, das
Dach war an mehreren Stellen undicht, der Garten glich einem
Urwald.
    Visible scheint darauf zu warten, in sich zusammenzusinken
und von besseren Zeiten träumen zu können, schrieb Stella in
einem ihrer immer seltener werdenden Briefe nach Boston. Und
die Bewohner der Stadt warten ebenfalls darauf. Sie mögen
dieses Haus nicht. Die großen Fenster machen ihnen Angst.
Weißt du, warum, Kleines? Weil es ausreicht, diese Fenster aus
der Ferne zu sehen, um zu wissen und zu fühlen, dass sie zu
einem weiten Blick auf die Welt zwingen.
    Ich bin mit Fotos von Stella groß geworden, unzählige
Aufnahmen, die Glass einige Monate nach dem Tod ihrer
Schwester aus deren Unterlagen geklaubt und im Haus verteilt
hat. Man begegnet ihnen überall, in der düsteren Eingangshalle,
im Treppenhaus, in beinahe jedem Zimmer. Wie kitschige
Heiligenbildchen hängen sie in billigen Rahmen an den
Wänden, sind aufgestellt auf wackeligen Kommoden und
Tischen, drängen sich auf Simsen und Fensterbänken. Mein
Lieblingsporträt von Stella zeigt ihr kantiges, von der Sonne
gebräuntes Gesicht. Sie hatte große, klare Augen mit unzähligen
Lachfältchen. Es ist das einzige Foto, auf dem meine Tante
weich und verletzlich wirkt. Aus allen anderen Bildern spricht
eine Mischung aus kindlichem Trotz und stürmischer
Herausforderung. Stella sieht darauf aus wie in Feuer gehärteter,
gerade im Ausglühen begriffener Stahl.
    Drei Tage bevor Glass auf Visible ankam, war meiner Tante
der weite Blick auf die Welt zum Verhängnis geworden. Beim
Fensterputzen war sie aus dem zweiten Stock des Hauses auf
die Auffahrt gestürzt, wo tags darauf der Briefträger sie
entdeckte. Sie lag wie schlafend auf dem kiesigen Boden, den
Kopf auf einen Arm gebettet, die Beine leicht angezogen. Ihr
Genick war gebrochen. Später fand Glass das Telegramm, das
sie selbst vom Schiff aus nach Visible gekabelt hatte, und den
Entwurf einer Antwort, die ihre ältere und einzige Schwester
nicht mehr hatte abschicken können: Kleines, freue mich auf
dich und Nachwuchs. Liebe, Stella.
    Stellas Tod berührte Glass tief. Sie hatte ihre Schwester
abgöttisch
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