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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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bis ein erster Sonnenstrahl den
Horizont berührte und endlich auch der Junge, um so vieles
widerwilliger als seine Zwillingsschwester, ihren Körper
verließ.
So wurden Dianne und ich geboren: Nassen, kleinen Tieren
gleich fielen wir auf verkrusteten Schnee, und dort wurden wir
aufgehoben von Tereza, die uns fortan Freundin und Begleiterin
sein sollte, Ratgeberin und zweite Mutter. Es war auch Tereza,
die mir später Paleiko schenken sollte, den launischen
Puppenmann aus schwarzem Porzellan.
Er ist etwas ganz Besonderes, Phil. Manchmal wird er mit dir
sprechen und dir Fragen beantworten.
Warum heißt er so komisch?
Das ist ein Geheimnis.
Doch das war viele Jahre später, an einem warmen
Sommertag, als keiner von uns an Schnee und Eis dachte. Glass,
obwohl sie es besser wissen müsste, besteht noch heute darauf,
jener weit zurückliegende Morgen sei ein magischer Moment
gewesen, da sich zum Zeitpunkt von Diannes und meiner
Geburt der Tag von der Nacht und der Winter vom Frühling
trennte. Tatsache aber ist, dass, erst drei Tage nachdem Dianne
und ich das Licht der Welt erblickt hatten, ein warmer,
föhnartiger Wind aufkam. Er schmolz den letzten Schnee, er
verwandelte Visibles Garten in ein Meer aus farbenprächtigen
Krokussen und schwankenden weißen Schneeglöckchen, und er
hielt eine ganze Woche lang an.

TEIL EINS
KELLER UND DACHBÖDEN
     
MARTINS HANDTUCH
    DIE MEISTEN MÄNNER, mit denen Glass Affären hatte,
bekam ich nie zu Gesicht. Sie kamen spätabends nach Visible
oder nachts, wenn Dianne und ich längst schliefen. Dann
schlugen Türen, und unbekannte Stimmen mischten sich in
unsere Träume. Morgens fanden sich hier und dort verräterische
Spuren ihrer Existenz: ein noch warmer Becher auf dem
Küchentisch, aus dem hastig starker Kaffee getrunken worden
war; die Verpackung einer Zahnbürste im Badezimmer, achtlos
zerknüllt und zu Boden geworfen. Manchmal war es nicht mehr
als ein verschlafener Geruch, der in der Luft hing wie ein
fremder Schatten.
    Einmal waren es Telefone. Dianne und ich hatten das
Wochenende bei Tereza verbracht, und als wir nach Hause
kamen, standen die Apparate in unseren Zimmern,
angeschlossen an frisch verlegte Kabel, der Putz an den Wänden
noch feucht. Glass hatte sich einen Elektriker geangelt. »Jetzt
hat jeder von uns seinen eigenen Apparat«, stellte sie zufrieden
fest, Dianne im linken Arm, mich im rechten. »Ist das nicht
phantastisch? Findet ihr das nicht wahnsinnig amerikanisch?«
    ICH LIEGE MATT auf meinem Bett, als das Telefon klingelt.
Die Julihitze hat mich erschlagen, sie kriecht selbst bei Nacht
durch die Zimmer und Flure wie ein müdes Tier, das nach
einem Schlafplatz sucht. Ich weiß, wer der Anrufer ist, weiß es
seit drei Wochen. Kat – eigentlich Katja, aber bis auf ihre Eltern
und einige Lehrer gibt es niemanden, der sie bei ihrem vollen
    Namen nennt – ist aus dem Urlaub zurück.
»Ich bin wieder da, Phil!«, schreit sie am anderen Ende der
Leitung.
»Unüberhörbar. Wie war’s?«
»Ein Alptraum, und hör auf zu grinsen, ich weiß, dass du das
gerade tust! Ich bin total elterngeschädigt, und die Insel war ein
verdammtes Dreckloch, du kannst es dir nicht vorstellen! Ich
will dich sehen.«
Ich blicke auf die Uhr. »In einer halben Stunde auf dem
Schlossberg?«
»Ich wäre gestorben, wenn du keine Zeit hättest.«
»Willkommen im Club. Ich hab mich in den letzten drei
Wochen fast zu Tode gelangweilt.«
»Hör zu, ich brauche länger, ungefähr eine Stunde? Ich muss
noch auspacken.«
»Kein Problem.«
»Ich freu mich auf dich… Phil?«
»Hm?«
»Ich hab dich vermisst.«
»Ich dich nicht.«
»Dachte ich mir. Arschloch!«
Ich lege den Hörer auf, bleibe auf dem Rücken liegen und
blinzele eine Viertelstunde lang das blendende Weiß der
Zimmerdecke an. Zypressenduft wird vom Sommerwind in
Wellen durch die geöffneten Fenster getrieben. Dann wälze ich
mich aus dem verschwitzten Bett, greife nach Boxershorts und
T-Shirt und tapse auf knarrenden Dielen durch den Flur in
Richtung Dusche.
Ich hasse das Badezimmer auf dieser Etage. Der Rahmen der
Tür ist verzogen, man muss sein ganzes Gewicht dagegen
stemmen, um sie zu öffnen. Dahinter wird man von
zersprungenen schwarzen und weißen Kacheln, von Rissen in
der Decke und rieselndem Putz begrüßt. Das veraltete
Leitungssystem benötigt drei Minuten, bis es endlich Wasser
liefert; im Winter ist der daran angeschlossene rostige Boiler
nur durch heftige Fußtritte dazu zu bringen,
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