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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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unsagbar wütend, weil sie wegen einer kaum erbsengroßen
Schnecke dazu gezwungen gewesen war, einen fremden
Menschen um Hilfe zu bitten, auch wenn es ein sehr netter
fremder Mensch gewesen war. Viele Jahre später fand ich
Clemens auf der Liste wieder. Hinter seinem Namen stand die
Nummer 24.
Bis wir zu Abend gegessen hatten und schlafen gingen, war es
dunkel geworden. Glass kam in unser Zimmer und trat an mein
Bett, das Licht war bereits gelöscht, Dianne schon
eingeschlafen. Sie hatte die Schnecke unter ihr Kopfkissen
gelegt, am nächsten Morgen war das Gehäuse in hundert
Splitter zerbrochen.
Als Glass sich über mich beugte, hatte ich das Gefühl, mit
ihrer Stimme allein zu sein.
»Wegen deiner Ohren…«
Es war Diannes Schuld! Hätte sie diese blöde Schnecke in
Ruhe gelassen, wäre Glass nicht dazu gezwungen gewesen,
stundenlang über Ohren nachzudenken.
»Dir ist hoffentlich klar«, sagte die Stimme, »dass sie dasselbe
mit dir machen werden, was sie mit Dumbo gemacht haben.«
»Wer?«
»Die da draußen.«
Vor dem nachtblauen Viereck, das der Rahmen des weit
offenen Fensters aus der Dunkelheit stanzte, sah ich den
Schattenriss einer Hand vorbei wischen. Die Bewegung
umfasste alles und jeden – die Stadt, ihre Bewohner auf der
anderen Seite des Flusses, den Rest der Welt, das Universum –
und in ihrer Allumfassenheit machte sie mir Angst.
»Was haben sie mit Dumbo gemacht?«
Die angespannte Erwartung hatte mich flüstern lassen, und
jetzt bildete ich mir ein, dass die Stimme mit einer Antwort
zögerte. Stille legte sich um mein pochendes Herz wie ein zu
enger, rauer Mantel.
»Sie stellten ihn im Zirkus auf einen zwanzig Meter hohen
Turm«, antwortete die Stimme endlich. Die Dunkelheit wurde
noch dunkler. »Er musste in ein Becken voller Grießbrei
springen. Und alle haben gelacht!«
    ANFANGS FLÖSSTE OBERSCHWESTER MARTHE mir
höllischen Respekt ein. Wann immer ich sie mit kampfbereit
gesenktem Haupt durch die Flure des Krankenhauses eilen sah,
stellte ich mir vor, wie sie vor langer Zeit zu einem
Eroberungsfeldzug angetreten war, der mit der erfolgreichen
Einnahme von Station 303 geendet hatte. Erst später bemerkte
ich, dass unter dem Panzer ihrer stets frisch gestärkten Blusen
ein butterweiches Herz schlug.
    »HNO«, schnaubte sie auf meine erste an sie gerichtete Frage,
und ich sah ein an einer feinen silbernen Halskette befestigtes
Kreuz aufblitzen, »heißt Halsnasenohren!«
    Unabhängig von deren Alter bezeichnete sie ihre Patienten als
Kinderchen und wer, wie ich, an den Ohren behandelt wurde,
gehörte zum enger gefassten Kreis der Löffelchen. Sie weigerte
sich standhaft, von der weichen Aussprache meines Vornamens
Gebrauch zu machen und nannte mich Pill.
    Pill, mein Löffelchen.
Bei allem Respekt, den sie mir abverlangte, fühlte ich doch
instinktiv, dass Oberschwester Marthe in der kalten, von
fremdartigen Gerüchen erfüllten Welt des Krankenhauses ein
Hafen der Sicherheit war. Um in diesem Hafen anzulegen,
musste ich, wie alle anderen Löffelchen auch, nicht mehr tun,
als meine großen Ohren als Segel zu benutzen, vorzugsweise
dann, wenn Oberschwester Marthe sich unbeobachtet durch
anderes Personal wusste. Dann ließ sie ihren Mutterinstinkten
freien Lauf, sprach weich und zärtlich, und wenn man Glück
hatte, wurde man an ihren dicken Busen gedrückt und hinter
den wahlweise abstehenden oder bereits malträtierten Ohren
    gekrault.
Der Arzt, der dafür sorgen sollte, dass mich wegen dieser
Ohren niemand jemals auslachen würde, hieß Dr. Eisbert. Dr.
Eisberts Stimme war dunkel und Vertrauen erweckend. Er hatte
tiefe, scharf eingegrabene Falten, die sich von seinen
Nasenflügeln bis hinunter zu den Mundwinkeln zogen und die
ich mit einigem Misstrauen beäugte. Solche Falten, beschloss
ich später, bekam man vom Lügen. Dr. Eisbert erläuterte mir
den Verlauf der Operation. Hinter jedem meiner Ohren würde
ein winziger Schnitt gemacht werden, um Knorpelmasse
entnehmen zu können.
»Sie schneiden mir die Ohren nicht ab, oder?«
»Nein. Nur ein kleiner Schnitt«, versicherte er mit seiner
Brummbärstimme. »Anschließend nähen wir alles wieder
zusammen, und du bekommst einen hübschen kleinen Turban.
Du wirst aussehen wie ein orientalischer Prinz.«
»Tut es weh?«
Dr. Eisbert schüttelte den Kopf. Ich ließ mich zufrieden
zurück in die Kissen sinken. Ein orientalischer Prinz genoss
königliche Immunität. Niemand da draußen würde auf die Idee
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