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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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mit
zweiwöchigem Erdnussbutter-Entzug bestraft. Plötzlich stieg
Wut in mir auf. Meine eigene Mutter hatte mich… nun,
angelogen mochte nicht die richtige Bezeichnung sein, aber sie
hatte einen Teil der Wahrheit verschwiegen. Den wichtigsten
Teil.
Was mich anging, so liefen Lügen und Verschweigen auf
dasselbe hinaus. Ich würde niemals fliegen können wie Dumbo.
Ich würde nie berühmt und ein Star werden. Dass Dr. Eisbert
mit seiner tiefen Stimme gelogen hatte, stand zweifelsfrei fest.
Ich hasste ihn. Der orientalische Prinz würde einen
blutbefleckten Turban tragen. Die Operation würde wehtun.
»Arschweh«, wiederholte ich erschauernd. Ich berührte das
Mädchen bei der Schulter. »Wie heißt du?«
»Katja. Und du?«
»Phil.«
»Wenn ich will, kriege ich hier jeden Tag Eiskrem. Am
liebsten habe ich Kirsch.«
»Ich Vanille… Darf ich dein Nachthemd anziehen?«
Wir stiegen aus dem Bett und zogen uns aus. Nackt fühlte ich
mich unwohl, im Gegensatz zu Katja. Als ich ihr meinen
Schlafanzug entgegenhielt, schüttelte sie den Kopf.
»Brauch ich nicht.«
»Aber meine Mum sagt, es gibt hier überall Bakterien.«
»Quatsch.«
Ich war kleiner als sie, ihr Nachthemd reichte mir bis zu den
Waden. Es war weich und duftig; es fiel, als ich es über Kopf
und Schultern gleiten ließ, an meinem Körper herab wie kühles
Wasser. Zurück im Bett schmiegte Katja sich an mich, nackt bis
auf den schrecklichen Kopfverband und so allen Bakterien der
Welt schutzlos preisgegeben. Ich legte einen Arm um sie, um
sie zu schützen. Sie schlief sofort ein, während meine
Fingerspitzen langsam über den ungewohnt glatten Stoff des
geblümten Nachthemdes wanderten. »Amerika«, flüsterte ich
mit geschlossenen Augen.
Die Welt war zu einem gefährlichen Ort geworden. In ihrem
Zentrum warteten, wie Spinnen im Netz, gewissenlose Ärzte,
die ihre Skalpelle kaltblütig an kleinen Kindern schärften. Mit
Spritzen bewaffnete Krankenschwestern hetzten wehrlose
Löffelchen durch die neongrünen, labyrinthischen Eingeweide
gigantischer Krankenhäuser. Auf Mütter konnte man sich, was
Hilfe anging, nicht verlassen. Sie waren Verräter am Ruhm, am
Vertrauen und am eigenen Kind. In Zukunft würde ich mich
vorsehen müssen.
Die Zukunft ist nie weiter als der nächste Augenblick entfernt.
Als ich ein tiefes, beunruhigtes Grunzen hörte und die Augen
öffnete, stand Oberschwester Marthe wie ein Racheengel vor
meinem Bett. »Immer auf der Flucht! Ihr Löffelchen seid doch
alle gleich.« Ich sah, wie die gestärkte Bluse energisch glatt
gestrichen wurde. »Der Herrgott sieht es nicht gern, wenn
Jungen und Mädchen sich ein Bett teilen.«
Der Herrgott, dachte ich, musste wahrscheinlich auch keine
Angst vor einer Operation haben, bei der ihm Knorpelmasse
hinter den Ohren entfernt werden sollte. Der Herrgott, entschied
ich bitter, war letzten Endes überhaupt dafür verantwortlich,
dass ich mit zwei von ihm fehlfabrizierten Löffelchen in
Halsnasenohren gelandet war.
Es überraschte mich keineswegs, dass er auch mit dem
Nachthemd nicht einverstanden war. Oberschwester Marthe
hatte bereits die Decke zurückgezogen und Katja behutsam aus
meinem Bett gehoben, als ihr Bück auf mich fiel und sie
stockte.
»Warum trägst du das, Pill?«
»Ich hab Angst.«
»Du musst keine Angst haben. Niemand will dir wehtun.«
»Doch. Katja hat es gesagt.«
»Zieh das Nachthemd aus. Der Herrgott – «
»Nein!«
Der Herrgott konnte mir gestohlen bleiben. Trotzig zog ich die
Decke unter mein Kinn und wappnete mich innerlich gegen das
zu erwartende Donnerwetter.
Es blieb aus. Vielleicht war es die Nacht und die Stille, oder
es war die warme Haut des in ihren Armen liegenden
Löffelchens, die Oberschwester Marthe erweichte. Mit einem
Kopfschütteln und einem letzten missbilligenden Blick auf das
geblümte Nachthemd verließ sie das Zimmer.
Katjas nackter Körper verschwand fast gänzlich in den starken
Armen, doch trotz ihres zarten Rückens, trotz des zur Seite
gerollten Kopfes mit den mitleiderregenden blutigen Flecken
auf dem Verband sah sie nicht zerbrechlich aus. Ich überlegte,
ob ich meine Angst vor dem Krankenhaus verlieren würde,
wenn ich genügend Kirscheis aß. In die Dunkelheit starrend,
streichelte ich über das Nachthemd.
»Amerika, Amerika, Amerika… «
IN DER DUMPFEN MITTAGSHITZE liegt der Marktplatz
mit seinem unter Taubenmist verschwindenden Kriegerdenkmal
und den Häuschen im Zuckerbäckerstil wie ausgestorben. Die
Luft steht still, nichts rührt sich.
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