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An und für dich

An und für dich

Titel: An und für dich
Autoren: Ella Griffin
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dich nicht vermisse, Sadbh , hatte er in dem ersten Brief geschrieben. Du bist das Erste, woran ich beim Aufwachen denke, und das Letzte abends vor dem Einschlafen.
    Wochenlang hatte sie mit diesem Brief unter dem Kopfkissen geschlafen. Sie hatte ihn wieder und wieder gelesen. Ich habe deine Mutter geliebt. Ich liebe sie immer noch. Und dann hatte sie ihn zu den Postkarten gelegt. Sie hatte sie alle aufgehoben.
    Als der letzte Brief kam, in dem ein Freund mitteilte, dass er gestorben war, hatte sie sich Hilfe gesucht. Ein halbes Jahr lang hatte sie einmal pro Woche auf einem Sitzsack in einem heruntergekommenen Zimmer über einer Fahrradwerkstatt in Blackrock einer älteren Dame mit einer misslungen Dauerwelle gegenübergesessen. Sie hatte geweint und sich mit der Entscheidung herumgequält, ob sie Sadbh die Wahrheit sagen sollte oder nicht. Am Ende hatte sie zu große Angst gehabt, ihre Tochter dadurch zu verlieren. Und fast wäre es ja auch so gekommen.
    Sie hatte Rob das Herz brechen wollen und hatte es dabei am Ende auch Sadbh gebrochen. Sie hatte kein Recht dazu gehabt, sie von ihrem Vater fernzuhalten. Das wusste sie nun. Tief drinnen hatte sie es eigentlich die ganze Zeit gewusst.
    In ihrem Zimmer war keine Uhr. Jill hatte keine Ahnung, wie lange sie schon wach war oder wann ihre Tochter wiederkommen würde. Die vertraute Erschöpfung setzte schon ein. Was, wenn ihre geistige Klarheit wieder verschwunden war, bevor sie Sadbh sagen konnte, wie leid ihr alles tat? Sie starrte zur Tür und wünschte sich Sadbh her. Es gab so vieles, was sie ihr schon vor Jahren hätte sagen sollen. Sie hatte so viel Zeit verschwendet. Sie wollte keine Minute länger warten.
35
    Irgendwann hatte Saffy angefangen, die Schritte vom Eingang des Krankenhauses bis zur Zimmertür ihrer Mutter zu zählen. Es waren immer zwischen achtzig und hundert, jedoch nie genug, um wirklich die riesige Entfernung zwischen der realen Welt und dem seltsamen Paralleluniversum zu überbrücken, in dem die kranken Menschen lebten.
    Hätte sie dort draußen jemanden gesehen, der verletzt war, blutete oder weinte, wäre sie automatisch stehen geblieben, um zu helfen. Hier drin hatte sie gelernt, einfach weiterzugehen. Vorbei an der blonden Frau, die schluchzend in der Notaufnahme stand (achtzehn Schritte). Vorbei an dem kahlköpfigen Mann im Schlafanzug, der sich stöhnend auf dem Boden vor der Röntgenstation krümmte (einunddreißig Schritte). Vorbei an der Frau mit dem roten Gesicht, die in ihrem Rollstuhl vor der Hämatologie stand und mit sich selbst redete (vierundvierzig Schritte).
    Bis zum Fahrstuhl waren es achtundfünfzig Schritte. Eigentlich wären es nur sechsundfünfzig gewesen, aber sie machte zwei Schritte zur Seite, um eine Frau vorzulassen, die einen Jungen im Rollstuhl schob. Er war im Teenageralter und hatte keine Haare mehr. Über seinem blauen Schlafanzug trug er eine schwarze Biker-Lederjacke.
    »Ich meine ja nur«, sagte die Frau und drückte den Knopf für ihr Stockwerk, »Jesus liebt dich wirklich.«
    »Ich will aber gar nicht, dass Jesus mich liebt.« Der Junge verdrehte genervt die Augen. »Ich will, dass Scarlett Johansson mich liebt. Oder Beyoncé. Oder die Blonde von Girls Aloud.«
    Die Frau warf Saffy einen leidenden Blick zu. Saffy konnte den Jungen jedoch gut verstehen. Welcher Teenager wollte schon von einem bärtigen Mittdreißiger geliebt werden? Sie befürchtete, laut loslachen zu müssen, wenn sie die Frau ansah, und starrte stattdessen lieber auf den Fußboden.
    Die Frau trug vernünftiges Schuhwerk, Sandalen. Der Junge hatte dunkelblaue Hausschuhe an, die sie an Liam erinnerten. Sie konzentrierte sich darauf, mit aller Kraft den Fußboden anzustarren, um nicht an ihn denken zu müssen. Sie vermisste ihn. Sie hatte gedacht, sie würde sich daran gewöhnen, aber das hatte sie nicht.
    Der Fahrstuhl hielt an, und eine ältere Dame, an deren Gehhilfe ein Bonbonpapier klebte, stieg ein. Hinter ihr kam ein Mann mit Troddeln auf den Slippern. Als sich die Türen schon fast wieder schlossen, trat noch jemand in den Fahrstuhl. Er trug Caterpillar-Stiefel mit weißen und blauen Farbspritzern darauf. Sie kamen ihr bekannt vor.
    »Bitte geh nicht in die USA .« Die Stimme kam ihr auch bekannt vor.
    »Ich gehe nicht in die USA «, sagte die ältere Dame. »Ich will nur in die Geriatrie im zweiten Stock.«
    »Ich hab diesen Schauspieler getroffen, der sagt, dass er dein Mann ist. Er hat mir erzählt, dass ihr wieder zusammen seid
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