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Amokspiel

Amokspiel

Titel: Amokspiel
Autoren: Sebastian Fitzek
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in Bezug auf meine Klamotten, den Fernseher und den durchgerosteten Golf sicher schnell einig werden. Das einzig wirklich Wertvolle, was ich Euch hinterlassen kann, sind meine Gefühle und Gedanken.
    Ira starrte auf die letzte Zeile des ersten Blattes. Ein dicker Tropfen fiel auf das Papier und verwischte die königsblaue Tinte, mit der die traurigen Worte verfasst waren. »Ist alles in Ordnung?«, fragte eine heisere Stimme am anderen Ende des Zimmers. Sie wischte sich mehrere Tränen aus dem Gesicht und sah zu ihm herüber. Diesel hatte sich den unpassendsten Zeitpunkt ausgesucht, um sein Versprechen einzulösen. Mit den Worten »Ich hab dir doch gesagt, ich lad dich auf einen Drink ein, wenn wir da rauskommen«, war er vor einer halben Stunde in ihre Wohnung gehumpelt. In der einen Hand einen Blumenstrauß von der Tankstelle, in der anderen eine Flasche >Mr. Bub-ble<-Kindersekt.
    Jetzt lehnte er im Türrahmen zwischen Küche und Wohnzimmer und stützte sich zusätzlich auf einer Krücke ab. Er trug einen fleischfarbenen Verband um den Hals, auf dem »Ich hasse Radio« geschrieben stand. Die Verbren-nungen hatten seinen gesamten Oberkörper gezeichnet, als er in einem Anflug von Panik glaubte, sie würden im »Erinnerungszimmer« ersticken, und sich auf das brennende Kleiderbündel geworfen hatte. »Was liest du da?«, fragte Diesel, so sanft es seine Stimme erlaubte. Er wirkte etwas hilflos. Ira dachte kurz darüber nach, ob sie ihn nochmals bitten sollte zu gehen. Vorhin hatte er sich nicht abwimmeln lassen, vermutlich weil sie es gar nicht erst energisch genug probiert hatte. Insgeheim war sie ganz froh, jemanden in ihrer Nähe zu wissen, falls sich das Grauen bewahrheiten sollte. Falls sie wirklich das lesen würde, was sie auf der folgenden Seite vermutete. »Ich bin gleich fertig«, bat sie ihn um Geduld und blätterte um.
    Mama: Du verbringst die Hälfte Deines Lebens damit, nach einem >Warum< zu suchen. Warum bin ich in Bezug auf Männer so anders? Wieso bin ich immer traurig gewesen, wenn Du mich besucht hast? Warum konntest Du mir nicht dabei helfen, meine Probleme in den Griff und wieder Freude am Leben zu bekommen?
    Ihr alle wollt alles hinterfragen. Gibt es keine sinnlosere Art, sein Leben zu vergeuden, als nach Antworten zu suchen, die einem nichts bringen? Mama: Du bist die Expertin auf dem Gebiet der Psyche. Du wirst mir zustimmen, wenn ich behaupte, es gibt so manch komplexes Problem, bei dem man nach jahrelanger Entwicklung nie mehr die erste Ursache finden wird. Am Ende bleibt immer nur ein Anlass. Wir beschäftigen uns mit Symptomen und wissen nichts über ihre Wurzeln.
    Meine Polyamorie (hab ich das richtig geschrieben, Dr. May?), mein sexuell aus der Art schlagendes Verhalten, war nicht das Problem, wie ich in Ihren Therapiesitzungen lernen durfte. Es war das Symptom eines tief in mir sitzenden Minderwertigkeitskomplexes. Sie haben das gut erkannt, aber geholfen hat es mir leider dennoch nicht. Jetzt weiß ich also, dass ich die Macht über eine Vielzahl von Männern gerade dadurch genieße, dass ich mich ihnen hingebe. Sie wollten jetzt weiter bohren, Dr. May. Herausfinden, warum mein Komplex in letzter Zeit immer stärker wurde. Mir kam das noch nutzloser vor, als ich mich ohnehin schon fühlte. Verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ich denke, wir können immer tiefer und tiefer in meinem Gemüt graben, und wir werden doch niemals auf den >Urknall< meiner Psyche stoßen. Irgendwann wird es eine erste Frage geben, auf die niemand eine Antwort weiß. Und die gängigen Klischees können wir ja schon mal ausschließen: Nein, ich wurde nicht missbraucht. Nein, es gab keinen Hausfreund, der zu mir unter die Bettdecke gekrochen ist, als ich noch klein war.
    Ich liebe Dich, Mama. Du hast mich nie vernachlässigt. Du hast nichts übersehen. Du trägst keine Schuld.
    Dir, Kitty, bin ich ebenfalls nicht böse. Sicher, ich war entsetzt, als ich herausfand, dass du ausgerechnet mit Marc geschlafen hast. Zuerst wollte ich mir selbst einreden, dass er vielleicht der erste Mann gewesen wäre, zu dem ich eine normale Beziehung
    hätte aufbauen können. Doch die Wahrheit ist: Meine Gefühle zu ihm waren schon wieder erloschen. Ich wollte mir einreden, mit ihm hätte ich den Ausstieg aus der Szene geschafft. Tatsächlich machte ich mich mit diesen Gedanken nur wieder kleiner und nährte meinen Minderwertigkeitskomplex. Mach Dir also deswegen keine Vorwürfe, Kitty. Was Du getan hast, indem Du Dich auf ein
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