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Amokspiel

Amokspiel

Titel: Amokspiel
Autoren: Sebastian Fitzek
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zu schreien.
    Für Jan gab es nur eine einzige Möglichkeit, wenn er das Überraschungsmoment in dieser kritischen Phase für sich ausnutzen wollte: Er musste jemanden verletzen, so schnell und so spektakulär wie möglich. Er benötigte eine eindrucksvolle Inszenierung. Etwas Schockierendes, das einen unbeteiligten Zuschauer sofort paralysierte. Also reichte er Timber die Hand zur Begrüßung, doch bevor der Moderator sie ergreifen konnte, zog Jan sie wieder weg, hob den Alugriff seiner Krücke an und hieb ihn mit Brachialgewalt auf dessen Nase.
    Der Blutstrahl, der sich aus Timbers Gesichtsmitte auf das Mischpult vor ihm ergoss, und der damit verbundene, entsetzliche Aufschrei des Moderators erzielten die gewünschte Wirkung. Niemand im Raum unternahm irgendetwas. Genau wie erwartet. Vor allem am Gesicht des Showproduzenten konnte Jan ablesen, wie dessen Gehirn vergeblich versuchte, das Geschehene zu verarbeiten. Flummi war auf eine harmlose Begrüßungsszene mit oberflächlichem Smalltalk eingestellt gewesen. Der Anblick des Moderators, der sich wimmernd beide Hände vors Gesicht hielt, passte einfach nicht in diese Erwartungshaltung. Ebendiese Verwirrung hatte Jan einberechnet. Sie verschaffte ihm Zeit. Mindestens anderthalb Sekunden.
    Mit einem Handkantenschlag zertrümmerte er die kleine Scheibe des Notrufkastens an der Wand und aktivierte den Alarmknopf. Augenblicklich übertönte eine schrille Sirene die letzten Töne des neuesten Hits von U2. Gleichzeitig fiel eine schwere Metalljalousie von außen vor dem großen Studiofenster herunter und nahm der Außenwelt die Sicht auf das Chaos im Inneren des A-Studios. »Was zum Teufel ...?« Der UPS-Fahrer hatte, wie erwartet, als Erster seine Stimme wiedergefunden. Er hockte am Ende der Theke, am weitesten von Jan entfernt. Zwischen ihnen saßen die Schwangere, das junge Pärchen und der übergewichtige Behördenwitzbold. Jan riss sich mit der linken Hand die Perücke vom Kopf und zog mit der anderen die Pistole aus der Tasche seiner Jogginghose.
    »Um Himmels willen, bitte .« Er konnte in dem ohrenbetäubenden Lärm nur ahnen, was die Schwangere zu ihm sagen wollte. Doch sie schaffte es nicht, ihren Satz zu vollenden. Sie erstarrte, als er die Pistole auf Timbers blutverschmiertes Gesicht richtete und dabei kurz auf die Studiouhr sah. 7.31 Uhr.
    Er hatte zehn Minuten, sieben Geiseln und drei Türen. Eine zum B-Studio. Eine zum News-Bereich. Die dritte direkt hinter ihm führte zu einer Art Küche. Davon hatte ihm der Junkie-Wachmann zwar nichts gesagt, aber wenn er sich richtig an den Grundriss des Gebäudes erinnerte, konnte sie zu keinem Ausgang führen. Um sie würde er sich also später kümmern. Jetzt musste er erst einmal seine Geiseln daran hindern, durch eine der beiden anderen Türen das Studio zu verlassen. Der Wachschutz war wegen des Alarms bereits auf dem Weg und würde in weniger als sechzig Sekunden von außen Stellung beziehen. Aber das bereitete ihm überhaupt keine Sorgen. Eben deshalb war er ja als Letzter reingegangen und hatte das Keycodeschloss an der Studiotür manipuliert. Das elektronische Schloss war ein sicherheitstechnischer Witz. Sobald dreimal hintereinander der falsche Nummerncode eingetippt wurde, kam niemand mehr in den Studiobereich hinein. Die Tür wurde automatisch verriegelt, und eine Zeitschaltuhr sorgte dafür, dass man zehn Minuten warten musste, bevor ein neuer Versuch möglich war. Wie zur Bestätigung rüttelten in diesem Moment die Wachmänner von außen an der Klinke. Da sie wegen der heruntergelassenen Jalousien keine Sicht ins Studio hatten, wussten die schlecht ausgebildeten Aushilfskräfte nicht, was sie jetzt tun sollten. Auf so eine Situation waren sie nicht vorbereitet.

6.
    Jan freute sich gerade, dass so weit alles nach Plan verlief, als die Dinge außer Kontrolle gerieten. Er hatte es geahnt: der UPS-Fahrer! Später machte er sich große Vorwürfe, weil er nicht bedacht hatte, dass er in Berlin nicht der Einzige war, der eine Waffe bei sich trug. Gerade wenn jemand als Paketbote täglich bei wildfremden Menschen an der Haustür klingelte, wusste er natürlich die beruhigende Wirkung einer Pistole zu schätzen. In dem winzigen Moment, als Jan seinen Geiseln ein erstes Mal den Rücken zudrehen musste, um hinter die Theke und vor das Mischpult zu gelangen, hatte der Bote seine Schusswaffe gezogen.
    Okay, du willst also den Helden spielen, dachte Jan und ärgerte sich, dass er bereits in diesem frühen Stadium
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