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Ambler-Warnung

Ambler-Warnung

Titel: Ambler-Warnung
Autoren: R Ludlum
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realistisch einschätzte. Obwohl das Personal alle drei Monate wechselte, hatten sich alle angewöhnt – das spürte er –, ihn als Lebenslänglichen zu betrachten, der hier noch eingesperrt sein würde, wenn sie längst nicht mehr hier arbeiteten.
    Vor einigen Wochen hatte sich jedoch alles verändert. Diese Veränderung war nichts Objektives, nichts Greifbares, nichts Sichtbares. Trotzdem war es eine schlichte Tatsache, dass er jemanden erreicht hatte, und das würde den Ausschlag geben. Vielmehr würde sie ihn geben. Sie hatte schon damit angefangen. Sie war eine junge psychiatrische Krankenschwester namens Laurel Holland. Und – so einfach war das – sie stand auf seiner Seite.

     
    Einige Minuten später erreichte der Krankenpfleger mit seinem schwerfälligen Patienten einen großen halbkreisförmigen Bereich der Abteilung 4W, der hochtrabend als Lounge bezeichnet wurde. Dieser Name war denkbar unpassend. Zutreffender war die technische Bezeichnung: Überwachungs-Atrium. An einem Ende standen einige primitive Fitnessgeräte und ein Bücherregal mit einer fünfzehn Jahre alten Ausgabe der World Book Encyclopedia. Am anderen Ende befand sich die Ausgabe: eine lange Theke mit einem lamellenartigen Schiebefenster aus Drahtglas, hinter dem auf einem Wandregal weiße Plastikflaschen mit pastellfarbenen Etiketten standen. Wie Ambler aus eigener Erfahrung wusste, konnte der Inhalt dieser Flaschen einen ebenso wirkungsvoll wehrlos machen wie stählerne Handschellen. Das Zeug bewirkte Erstarrung ohne inneren Frieden, Trägheit ohne innere Ruhe.
    Die Klinik legte jedoch weniger Wert auf Ruhe als auf Ruhigstellung. An diesem Morgen war in der Lounge ein halbes Dutzend Krankenpfleger versammelt. Das war nicht ungewöhnlich: Nur das Personal nutzte die Lounge wirklich. Die Abteilung war für ein Dutzend Patienten eingerichtet; gegenwärtig war dort ein einziger untergebracht. Das hatte dazu geführt, dass dieser Bereich inoffiziell zu einer Art Erholungs- und Entspannungszentrum für Pfleger wurde, die in anderen Abteilungen eher belastende Arbeit taten. Und ihre Tendenz, sich hier zu versammeln, steigerte wiederum die Sicherheit dieser Abteilung.
    Als Ambler sich umdrehte und zwei Krankenpflegern zunickte, die sich auf einer niedrigen Schaumstoffcouch herumlümmelten, ließ er langsam einen Speichelfaden über sein Kinn rinnen; der Blick, den er auf sie richtete, war unscharf und verschleiert. Er hatte längst registriert, wer alles anwesend
war: sechs Krankenpfleger, der behandelnde Psychiater und – Amblers einzige Rettungsleine – die psychiatrische Krankenschwester.
    »Jetzt gibt’s Bonbons«, sagte einer der Pfleger, und die anderen kicherten hämisch.
    Ambler stapfte langsam zur Theke, hinter der die Schwester mit den kastanienbraunen Haaren mit seinen Morgenpillen wartete. Ein unsichtbarer Funke – ein flüchtiger Blick, ein angedeutetes Kopfnicken – sprang zwischen ihnen über.
    Ihren Namen hatte er zufällig erfahren; sie hatte versehentlich ein Glas Wasser verschüttet, wobei der Stoff, der ihr Azetatnamensschild hätte verdecken sollen, nass und durchsichtig geworden war. Laurel Holland – die Buchstaben waren unter der Abdeckung schemenhaft zu erkennen gewesen. Er hatte ihren Namen geflüstert; sie hatte nervös, aber irgendwie nicht ungehalten gewirkt. Damit war der Funke zwischen ihnen übergesprungen. Er studierte ihr Gesicht, ihre Haltung, ihre Stimme, ihr Auftreten. Sie war Anfang dreißig, schätzte er, mit grün gefleckten haselnussbraunen Augen und geschmeidiger Figur. Cleverer und hübscher, als ihm bewusst gewesen war.
    Gespräche zwischen ihnen bestanden nur aus wenigen gemurmelten Worten, die von den Überwachungssystemen nicht registriert wurden. Vieles ließ sich jedoch allein durch Blickkontakte und vielsagendes Lächeln ausdrücken. Für das System war er Patient Nr. 5312. Aber für sie war er inzwischen weit mehr als nur eine Zahl, das wusste er.
    In den vergangenen sechs Wochen hatte er ihre Sympathie gewonnen. Nicht durch Schauspielerei – die hätte sie vermutlich rasch durchschaut –, sondern indem er sich auf eine Art gestattete, auf sie zu reagieren, die sie ermutigte, ihrerseits das Gleiche zu tun. Sie hatte etwas in ihm gesehen – sie hatte ihn als geistig normal erkannt.

    Dieses Wissen hatte ihm neues Selbstvertrauen verliehen und seinen Fluchtwillen gestärkt. »Ich will nicht hier sterben«, hatte er ihr eines Morgens zugemurmelt. Sie hatte keine Antwort
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