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Ambler-Warnung

Ambler-Warnung

Titel: Ambler-Warnung
Autoren: R Ludlum
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gelang.
     
    Routine: Ambler konnte sich nicht entscheiden, ob ihre Einhaltung seine Rettung oder sein Untergang war. Schweigend und effizient absolvierte er seine tägliche Gymnastik, die er mit hundert einarmigen Liegestützen abschloss, bei denen er zwischen links und rechts wechselte. Baden durfte er nur jeden zweiten Tag; heute war kein Badetag. An dem kleinen weißen Waschbecken in einer Ecke des Raums putzte er sich die Zähne. Der Stiel seiner Zahnbürste bestand aus weichem Kunststoff, denn hartes Plastikmaterial ließ sich eventuell zu einer Waffe zuschleifen. Als er eine in die Wand eingelassene Klappe berührte, glitt ein kompakter Elektrorasierer aus einem Fach über dem Becken. Er durfte ihn genau hundertzwanzig Sekunden lang benutzen, bevor er das mit einem Sensor ausgestattete Gerät in das Sicherheitsfach zurücklegen musste; sonst ertönte ein Alarmsignal. Als er fertig war, spritzte Ambler sich Wasser ins Gesicht und fuhr sich mit nassen Fingern durchs Haar, um es halbwegs zu kämmen. Es gab keinen Spiegel, nicht einmal eine reflektierende Oberfläche. In dieser Abteilung war sogar das Fensterglas entspiegelt. All das diente bestimmt obskuren therapeutischen Zwecken. Er schlüpfte in seine »Tageskleidung«, die Uniform der Insassen: ein weißes Sweatshirt aus Baumwolle und eine weiße Jogginghose mit Gummizug.
    Er drehte sich langsam um, als er hörte, wie sich die Tür öffnete, und roch das Desinfektionsmittel, dessen Tannenduft immer im Korridor hing. Wie gewöhnlich kam ein stämmiger Mann mit Bürstenhaarschnitt herein, der eine Uniform aus
taubengrauem Popeline trug und das Namensschild auf seiner linken Brustseite sorgfältig mit einem Stoffquadrat abgedeckt hatte: eine weitere Vorsichtsmaßnahme, die das Personal in seiner Abteilung beachten musste. Die breite Aussprache des Mannes ließ erkennen, dass er aus dem amerikanischen Mittelwesten stammte, aber seine gelangweilte, nicht im Geringsten neugierige Art war so ansteckend, dass Ambler sich herzlich wenig für ihn interessierte.
    Nochmals Routine: Der Krankenpfleger trug einen breiten Nylongurt in einer Hand. »Arme hoch«, befahl er grunzend, als er auf Ambler zutrat und ihm den Gurt um die Taille legte. Ohne diesen speziellen Gürtel durfte Ambler den Raum nicht verlassen. Zwischen zwei dicken Nylonlagen steckten mehrere flache Lithiumbatterien; hatte er den Gurt angelegt, lagen zwei Metallkontakte knapp oberhalb seiner linken Niere auf der Haut.
    Dieser Gürtel – offiziell als REACT-Gürtel (Remote Electronically Activated Control Technology) bekannt – wurde normalerweise bei Transporten von Schwerverbrechern benutzt; in Abteilung 4W gehörte er zur Alltagskleidung. Der Elektroschocker konnte aus bis zu hundert Metern Entfernung aktiviert werden und war so eingestellt, dass er eine Achtelsekunde lang 50 000 Volt abgab. Dieser Stromstoß hätte selbst einen Sumo-Ringer zu Boden geworfen, wo er dann zehn bis fünfzehn Minuten lang epileptisch gezuckt hätte.
    Sobald das Gurtschloss eingeschnappt war, begleitete der Krankenpfleger ihn den weiß gekachelten Flur entlang zur allmorgendlichen Medikamentenausgabe. Ambler ging langsam und schwerfällig, als wate er durch tiefes Wasser. Dieser Gang war oft die Folge von Psychopharmaka in hoher Dosierung und daher allen, die in den Abteilungen arbeiteten, wohl vertraut. Amblers Bewegungen standen im Widerspruch
zu dem hellwachen Blick, mit dem er seine Umgebung musterte. Das gehörte zu den vielen Dingen, die dem Krankenpfleger entgingen.
    Ambler hingegen entgingen nur wenige Dinge.
    Das Gebäude war jahrzehntealt, aber es war regelmäßig mit modernster Sicherheitstechnik nachgerüstet worden: Die Türen wurden nicht mit Schlüsseln, sondern mit Karten geöffnet, die Transponderchips enthielten, und wichtige Verbindungstüren erforderten einen Irisscan, sodass kein Unbefugter sie öffnen konnte. Ungefähr dreißig Meter von seiner Zelle entfernt lag der sogenannte Evaluationsraum mit einer Fensterwand aus grauem polarisiertem Glas, durch das der Proband beobachtet werden konnte, ohne den Beobachter sehen zu können. Dort saß Ambler bei seinen regelmäßigen »psychiatrischen Evaluationen«, deren Zweck dem anwesenden Arzt anscheinend ebenso wenig klar war wie ihm selbst. In den letzten Monaten hatte Ambler wahre Verzweiflung kennengelernt, die jedoch nicht mit psychischen Störungen zusammenhing; vielmehr beruhte seine Verzweiflung darauf, dass er seine Aussichten auf Entlassung
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