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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern
Autoren: Jack Womack
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mir herum, als hätte er vor, mir die Kleider vom Leib zu ratschen. Seine Pupillen zeigten die gleiche Leblosigkeit wie die Augen der Steinengel. »Her damit!«
    Ich gab mir alle Mühe, um mich ihm zu entziehen, doch er konnte oder wollte die Hand nicht mehr aus meiner Tasche entfernen.
    »Avi!« schrie ich; durchs Getümmel bahnte er sich zu mir eine Gasse. »Jag ihn weg …!«
    »Geld her …!« Avis Hand umschlang den Hals des Kerls. Ich zerrte die Tatze aus meiner Tasche, während Avis die Gestalt auf den Bürgersteig senkte. Der Mob wirkte gleich merklich ruhiger und zerstreute sich. Avi ließ den Mann hinsacken, nahm mich am Arm und führte mich zum Haus.
    »Hast du ihn umgebracht?« fragte ich; mein Bein war von der Berührung des Penners noch warm.
    Er nickte. »Gib nichts drum.« Wir hasteten die ausgetretene Eingangstreppe der Schule hinauf. Avi verwendete waffenlose Kampfmethoden, mit denen er kein Blut vergoß, so daß er frei von Sünde blieb. Nichts darum geben? Obwohl ich unter jedes Mitleid einen Schlußstrich gezogen hatte, machte ich noch immer nachts ins Bett.
    Sobald wir das Gebäude betreten hatten, gelangten wir in einen so ausreichend vergrößerten Flur, daß er als Foyer benutzt werden konnte. Ungleichmäßig mit Klebestreifen befestigte Poster bedeckten die Löcher und Placken im Putz, wie Pflaster Wunden verhüllten. Einige Aushänge listeten medizinische Litaneien und die achtundneunzig Frühwarnsymptome von Krebs auf; ein Plakat nannte Telefonnummern, die man bei Vergewaltigung, Überfall, Unfall oder Suizidgefahr anrufen könnte, jedoch mit dem Hinweis, es gäbe für keine Probleme irgendeine Abhilfegarantie. Ein weiteres, in grellbunten Farben gedrucktes Plakat beschrieb den richtigen Gebrauch von Verhütungsmitteln. Ein Poster präsentierte lediglich ein Foto von Kätzchen mitten zwischen Blumen. Sie sahen aus, als wären sie ausgestopft. Hinter einem mit Farbflecken besprenkelten Tisch saß eine Frau um die fünfzig. Sie hatte vor sich auf dem Tisch einen Glaskrug Malzbier und um den Arm einen frischen Verband.
    »Wir kommen von der Dryco«, sagte ich. »Wir haben eine Verabredung mit Lester Macaffrey.«
    Die Ärzte mußten der Frau bei der Krebsoperation den Kehlkopf entfernt haben, sie hob, um zu antworten, ein Mikrofon an den Hals; die so erzeugte Stimme klang automatenhafter als bei einem Toyota. »Dritte Etage, zweite Tür rechts.«
    Während sie ihre Arbeit wiederaufnahm, fingen wir erst an, und zwar indem wir die enge Treppenflucht am anderen Ende des Flurs erstiegen. Frühere Hausbewohner, die einstigen Mieter, hatten nichts außer ihrem Gemüse-Hydrotank, dem schwachen Duft gekochter Linsen und gedünsteten Kohls sowie – als ob wir an einer Marktbude vorübergingen – einen Geruch nach Paprika hinterlassen. Zu still für eine Schule schien es in dem Bau zu sein. An den Wänden, an denen wir entlangschritten, hingen Schülerzeichnungen.
    »Gutes Gespür für Farben«, urteilte Avi. »Was die Themen betrifft, muß man in der Altersstufe mit Häufungen rechnen.«
    Manche Bilder hätte jedes beliebige Kind, das in Beirut, Belfast oder Johannesburg lebte, gemalt haben können. Auf einigen Zeichnungen ließen sich allerdings Merkmale unserer hiesigen Umgebung unterscheiden. Darauf flüchteten Menschenmengen aus im Hintergrund befindlichen Gebäuden, denen tintenschwarze Rauchwolken entquollen; Soldaten erschossen in Hinterhöfen junge Männer; Kinder liefen Fahrzeugen nach, die ihre Hunde abtransportierten. Ein junger Künstler hatte in herkömmlichem Stil eine Vorortszenerie gezeichnet, die nichts ungewöhnliches außer in einem Detail umfaßte: Eine Mutter und ein Vater standen vor ihrem Haus, und jeder hielt die Hand eines halben Kinds. Die Präsentation erstreckte sich bis ins dritte Geschoß; höher stiegen wir nicht. Als wir schließlich ein Gelächter etlicher Kinder hörten, fragte ich mich, über wen sie wohl lachten. An Macaffreys Tür stand mit Filzstift aufs Glas gepinselt zu lesen: Wissen ist Gefahr.
    »Besucher«, rief eine Männerstimme, kaum daß ich angeklopft hatte. »Herein!« Avi öffnete die Tür, ging vor; sofort sah ich drinnen den Gesuchten. Macaffrey wirkte äußerlich so unscheinbar wie Millionen andere auch; wäre er in diesem Moment aus meinem Gesichtskreis verschwunden, hätte ich ihn nicht akkurater als die Umrisse einer Wolke zu beschreiben vermocht. »Setzen Sie sich zur Klasse oder stellen Sie sich in die Ecke.«
    Wir entschieden uns fürs Stehen
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