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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern
Autoren: Jack Womack
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einmal, während ich bei ihr zu Besuch saß, eine Geschichte erzählt, die man nie in den Nachrichten gebracht hatte. Im Corlears Hook Park hatte das Heer sechzig Problempersonen erschossen. In weißen Fahrzeugen rollten Sanitäter an, packten sie in Kleidersammlungs-Plastiksäcke des Roten Kreuzes und scharrten sie ein. Später kam eine Frau zu der Grube. Mit nackten Händen buddelte sie in der Erde, bis sie ihren Mann fand. Sie bedeckte die anderen Toten wieder mit der Erdschicht und schleppte ihn fort, weil er andernorts seinen Letzten Schlaf allein halten sollte. Jemand der zugesehen hatte, wie sie auf seiner neuen Grabstelle den Lehm festklopfte, fragte sie, wohin sie nun ginge. Zum Lebensmittelladen, hatte sie geantwortet. Ich habe Mäuler zu füttern.

Z WE I
    Während wir an der Ampel warteten, sahen wir Panzer die Erste Avenue entlangrasseln. In den ersten Monaten der Neuordnung waren so zahlreiche zur Befriedung eingesetzte Kampffahrzeuge durchs Straßenpflaster in die U-Bahn-Stollen eingebrochen, daß jene, die jetzt noch durch Manhattan patrouillierten, ausschließlich die Straßen mit dickerer Kruste benutzten. Sogar in den störrischeren Gegenden der Stadt herrschte gegenwärtig ein Anschein von Ruhe vor; in der Regierung hätten viele, besonders Armeekommandeure – selbst bei der Dryco gab es Befürworter –, gerne die Soldaten aus New York abgezogen, so wie aus anderen Städten, und nach Long Island geschickt, wo man sie benötigte. Doch die Drydens lehnten einen Rückzug des Militärs ab; das Heer hatte keine Möglichkeit zur Unterdrückung von Unruhen, wenn es abwesend blieb und keine Unruhe auslösen konnte.
    »Es ist traurig, daß so viele Leute darauf hoffen, es würde besser«, meinte Avi, blickte durchs Einwegglas der Autofenster, als sähe er sich vorm TV-Apparat seine Lieblingssendung an. »Das wirkliche Opium fürs Volk ist die Hoffnung. Es wäre sinnvoller, die Menschen beschränkten sich auf das, was ist. Aber nein, sie träumen davon, daß der Mann auf der weißen Eselin geritten kommt und alles wieder in Ordnung bringt. Als Traum ist das ein wahres Krebsgeschwür.«
    »Erfüllt Krebs keinen sinnvollen Zweck?« fragte ich, träumte für meinen Teil noch immer davon, einmal in einem Wortwechsel mit Avis die Oberhand zu behalten und zu hören, wie er es eingestand.
    »Er bewirkt«, sagte er, »daß Menschen die Welt so sehen, wie sie ist.«
    Ein Panzer trödelte hinter der Kolonne her, vermutlich saß darin als Kommandant der Regimentstrottel. Er erkannte unser Auto als Dryco-Dienstwagen und drehte den Turm in unsere Richtung, und wäre es nicht bloß zum spaßhaften Gruß gewesen, ich weiß nicht, was Avi getan hätte oder noch hätte tun können. Alle Sicherheitsmitarbeiter hatten Fähigkeiten in allen Bereichen; nach Gus zählte Avi zu den fähigsten, doch ich habe nie angenommen, er könnte uns immer retten.
    »Ich rate dir seit jeher, das Leben so zu nehmen, wie's ist. So wie alle anderen 's auch halten sollten. Alles ist nur Karma.«
    Unser Wagen schlich ostwärts zur Neunten Straße. Im Verlauf der Nacht hatte eine Kältefront die Wolken vom Himmel verdrängt; die Morgensonne glitzerte auf den Tränen von Millionen.
    »Karma?« wiederholte ich. »Schmeggege. Du bist mir vielleicht ein Hindu.« Er lächelte, als er ein Wort einer Sprache hörte, die er totzuschweigen vorzog. Avis Familie bestand aus Lubawitscher Hasidim; seiner alten Welt hatte er schon als Jugendlicher den Rücken zugekehrt. Als Twen hatte er sich reichlich am Buffet der Glaubensgemeinschaften bedient, von den Angeboten des Unitarismus, Katholizismus, Reformjudaismus, Buddhismus und sonstiger Bekenntnisse gekostet und die Proben verdaut, sich endlich auf einem Teller diverse Häppchen zusammengestellt, an denen er fortan mümmeln konnte. Seine unerschütterlichste Überzeugung betraf ein Weiterleben nach dem Tod, das fürs vorherige Dasein eine solche Wiedergutmachung bedeuten sollte, daß er für die eigene Existenz keine höhere Rechtfertigung sah, als Zeitgenossen den Lebensweg zu verkürzen.
    »Betracht's wie 'n Markennamen«, empfahl er. »Wie Kleenex, Lasereo oder Gott. Ein Wort, das man versteht, ohne den Inhalt zu begreifen.« Mit einem Seidentaschentuch, das ihm seine Verlobte geschenkt hatte, putzte er sich die Brille. »Die Medien haben die gleiche Einstellung«, fügte er hinzu, reichte mir sein Exemplar der Newsweek. ›Für die sechs Milliarden‹ hieß es mit Bezug auf all jene, die unseren Bahnhof
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