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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern
Autoren: Jack Womack
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mit dem 20.-Jahrhundert-Zug verlassen hatten, auf dem Titelblatt. Ich hatte den Artikel schon quer durchgelesen und gimpelhafte Formulierungen entdeckt, die sich anmaßten, ein volles Verständnis der Jahre zu haben, in denen sich das Zeitalter des vollendeten Viktorianismus in unsere Neo-Post-Epoche verwandelte. Vielleicht hofften die Herausgeber, aus dem, womit sie die Seiten füllten, könnten sich unerwartete strukturelle Zusammenhänge ergeben, doch heutzutage gaben die Schnittmuster, nach denen die Fabrikation der Konfektionsklamotten erfolgte, die einzigen beständigen Schemata ab. Sie hatten altbekannte Bilder aus dem Familienalbum der Menschheit nachgedruckt; Foto reihte sich an Foto: Elvis neben Hitler, Joyce neben den Beatles; den Matrosen, der am Tag der japanischen Kapitulation auf dem Times Square ein Mädchen küßte, sah man Seite an Seite mit dem Mädchen, das brennend über eine Landstraße Vietnams rannte; Gorbatschows Konterfei hatte man zwischen Einzelbild 313 des Zapruder-Films und eine Aufnahme der ersten Infanterieabteilung plaziert, die über die Fußgängerbrücke der 95. Straße marschierte.
    »Mir kommt's so vor, als erlebten wir jetzt bloß Geburtswehen, als würde der stärkste Schmerz uns erst nach der Entbindung bevorstehen«, sagte Avi. »Wer weiß? Aber daß wir in einer miesen Welt leben, heißt noch längst nicht, daß wir sie nicht lieben sollten.«
    An der letzten Straßenecke gab es einen dichtgemachten Benetton-Laden zu sehen. Gegenüber, an der Ecke zur 9. Straße, hatten Anwohner eine Mauer mit einer Gruppe schlecht dargestellter Skelette bemalt, die graue Nadelstreifen trugen, genau wie ich, in strammem Marschtritt die Beine bis zum Mittelfußknochen über die Schädel hochschwangen. »Majoretten der Hölle«, lautete Avis Kommentar. »Schreckliche Aussichten.«
    »Sie haben hier die Hausnummern überpinselt«, beanstandete der Fahrer, verminderte das Tempo, damit wir weder das Haus verfehlten, noch jemanden überfuhren.
    »Es ist ein paar Häuser westlich der Avenue A«, sagte ich. »Dort muß es sein.«
    Mit Ausnahme des Eingangs ähnelte das Gebäude den sechsstöckigen Nachbarhäusern; es glich einem Kadaver in einer Aufreihung seinesgleichen, die die Lehren des Neo-Tags abwartete. Die früheren Mietshausarchitekten hatten oft über die Vordereingänge ihrer Bauten Namen meißeln lassen, um frisch eingetroffenen Einwanderern einen Neue-Welt-Traum zu gewähren, die Einbildung, ihre Mietskasernen stünden dem Hotel Dakota oder dem Beinord nicht nach. Die Stahltür zu Macaffreys Schule wies einen chromgelben Anstrich auf; der Name darüber – Hartman – glänzte von verschmuddelter Vergoldung. Aus Doppelkreisen, die wie Buchstützen eine Weltkugel in der Balance hielten, lugten die zerfressenen Gesichter steinerner Seraphim; jeweils drei Paare ihrer Schwingen bildeten einen Kreis. Die Augen schienen den Engeln auf die Wangen auszulaufen, als hätten sie arglos und unvorbereitet die Dreifaltigkeit dieser Welt erblickt.
    »Beachte sie gar nicht, Avi«, sagte ich, meinte damit die noch nicht Erblindeten, die auf dem Bordstein, auf Außentreppen und Veranden kauerten. Laut kürzlich gelesener Zahlen sollte die Bevölkerungsdichte Unteraffenkaffs sich wieder der Größenordnung annähern, die sie um die letzte Jahrhundertwende gehabt hatte, doch das erachtete ich als ausgeschlossen; zu viele alte Gebäude existierten nicht mehr, und eine derartige Menge an Menschen konnte unmöglich in den Straßen hausen.
    »Daß ich einschreite, wird zwangsläufig nötig sein, Joanna. Das weißt du doch selbst.«
    Die Gnade bei Avis Auserwähltheit, die ihn zum Verdammen und Erretten befugte, lag in der Tatsache, daß er seinen Daseinszweck so gut durchschaute. Kaum waren wir ausgestiegen, verriegelte der Fahrer den Wagen und setzte die Karosserie für die Dauer unseres Besuchs in der Schule unter Strom. Sofort umringte man uns zu Dutzenden, trennte uns, fuchtelte ausgestreckten Arms mit leeren Bechern, die ganze Horde umschwirrte uns wie ein Bienenschwarm.
    »Geld«, rief man. »Bitte Geld für Essen. Geld.«
    Ich starrte geradeaus, ohne irgendwen oder irgendwas anzusehen, so daß ich mir einreden konnte, diese Leute seien gar nicht wirklich da. Indem ich verunstaltete Finger von meinen Schultern schüttelte, versuchte ich mich durchs Gewimmel zu schieben. Jemand rammte eine Faust in meine Hosentasche, hielt mich zurück. »Du hast Kies, du Luder«, quetschte mein Bedränger hervor, riß an
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