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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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mich immer.
    ›Fühl dich nicht schuldig‹, sage ich zu mir selbst. ›Wenn er verliebt ist, ist das seine Sache.‹
    Er hat mich nach der Medaille gefragt. Ich weiß, daß er hofft, ich würde auf unser Gespräch im Cafe zurückkommen. Gleichzeitig fürchtet er zu hören, was er nicht hören möchte, deshalb hakt er nicht nach, läßt das Thema fallen.
    Vielleicht liebt er mich ja wirklich. Aber wir werden es schaffen, diese Liebe in etwas anderes zu verwandeln, in etwas Tieferes.
    ›Lächerlich‹, denke ich bei mir. ›Es gibt nichts Tieferes als die Liebe. In den Märchen küßt die Prinzessin den Frosch, und der verwandelt sich in einen Prinzen. Im wirklichen Leben küßt die Prinzessin den Prinzen, und er verwandelt sich in einen Frosch.‹
    Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir die Kapelle. Ein alter Mann sitzt auf den Stufen zum Eingang.
    Er ist der erste Mensch, den wir seit dem Beginn unserer Wanderung treffen. Denn es ist bereits Herbst, und die Felder sind wieder dem Herrn überlassen, der die Erde segnet und fruchtbar macht, damit der Mensch von ihr im Schweiße seines Angesichts seine Nahrung erntet.
    »Guten Tag«, sagt er zu dem Mann.
    »Guten Tag.«
    »Wie heißt diese Ortschaft dort?«
    »San Martin de Unx.«
    »Unx?« sage ich. »Das hört sich wie der Name eines Erdgeists an.«
    Der Alte versteht den Scherz nicht. Etwas verlegen gehe ich zur Tür der Kapelle.
    Die Tür steht offen. Wegen der Helligkeit draußen sehe ich das Innere der Kapelle nur undeutlich.
    »Nur einen Augenblick. Ich möchte gern beten.«
    »Tut mir leid. Sie ist schon geschlossen.«
    Er hört meinem Gespräch mit dem Alten zu, sagt aber nichts.
    »Nun ja, dann gehen wir eben wieder«, sage ich. »Es bringt nichts, darüber einen Streit zu beginnen.«
    Er sieht mich weiterhin an. Sein Blick ist leer, in die Ferne gerichtet.
    »Willst du die Kapelle denn nicht sehen?« fragt er.
    Ich weiß, daß ihm meine Haltung nicht gefällt. Er wird mich für schwach, feige, unfähig halten, meinen Willen durchzusetzen. Es brauchte keinen Kuß, die Prinzessin verwandelte sich von allein in eine Kröte.
    »Denk an gestern«, sage ich. »Gestern im Cafe hast du einfach das Gespräch abgebrochen, weil du keine Lust auf eine Diskussion hattest. Jetzt, wo ich genau das gleiche mache, zeigst du mir, daß es dir nicht gefällt.«
    Der Alte schaut unserer Diskussion ungerührt zu. Wahrscheinlich freut er sich, weil an diesem Ort, an dem alle Morgen, alle Nachmittage, alle Nächte gleich sind, endlich einmal etwas passiert.
    »Die Kirchentür steht offen«, sagt er, zum Alten gewandt. »Wenn Sie Geld haben wollen, bitte sehr. Aber sie möchte die Kirche sehen.«
    »Die Zeit ist um.«
    »Meinetwegen. Aber wir gehen trotzdem hinein.«
    Er packt mich am Arm und tritt mit mir ein.
    Ich bekomme Herzklopfen. Der Alte könnte aggressiv werden, die Polizei rufen, uns unsere Wanderung verderben.
    »Warum tust du das?«
    »Weil du die Kapelle sehen möchtest«, ist seine Antwort.
    Aber mir gelingt es nicht, genau zu sehen, wie es drinnen aussieht. Mein Benehmen hat den Zauber eines beinahe vollkommenen Morgens zerstört.
    Ich höre nur auf das, was draußen geschieht, ich stelle mir vor, daß der Alte weggegangen ist und die Dorfpolizei anrückt. Unerlaubtes Eindringen in eine Kirche. Diebe. Ich tat etwas Verbotenes, übertrat das Gesetz. Der Alte hatte gesagt, sie sei geschlossen, die Besichtigungszeit vorbei! Er war ein armer Alter, der uns nicht zurückhalten konnte, und die Polizei würde noch härter mit uns verfahren, weil wir einen Greis respektlos behandelt hatten.
    Ich bleibe nur so lange drinnen, wie es nötig ist, um den Eindruck zu erwecken, daß ich mich nicht unbehaglich fühle. Mein Herz schlägt noch immer so heftig, daß ich fürchte, er könnte es hören.
    »Wir können gehen«, sage ich, als ich so lange gewartet habe, wie ein Ave-Maria dauert.
    »Hab keine Angst, Pilar. Du mußt hier nichts inszenieren.«
    Ich wollte nicht, daß das Problem mit dem Alten zu einem Problem mit ihm wurde. Ich mußte Ruhe bewahren.
    »Ich weiß nicht, was du mit ›inszenieren‹ meinst«, entgegne ich.
    »Es gibt Leute, die sind mit jemandem im Streit, mit sich selbst im Streit, mit dem Leben im Streit. Sie fangen dann an, in ihrem Kopf eine Art Theaterstück zu inszenieren, dessen Handlung ihren Frustrationen entspricht.«
    »Ich kenne viele Leute, die das tun. Ich weiß, wovon du redest.«
    »Das Schlimmste ist jedoch, daß sie dieses Theaterstück
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