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Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Titel: Am Mittwoch wird der Rabbi nass
Autoren: Harry Kemelman
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ja, wie alt? Dreißig? Vierzig? Fünfundvierzig? Schwer zu schätzen. Der lange Bart wurde schon grau, jedoch die Hand, die ihn zuweilen strich, war die eines noch jungen Mannes.
    «Ah, unser junger Wikinger», murmelte Reb Mendel und nickte zu einem Stuhl neben dem Schreibtisch hinüber.
    «Wie bitte, rebbe ? Ich habe nicht ganz verstanden …»
    Reb Mendel lächelte. «Nichts weiter. Ein kleiner Scherz. Du möchtest hier also eine Woche bleiben?»
    «Ich habe eine Woche Urlaub», erklärte Akiva. «Und dachte, die könnte ich am besten hier mit Beten und Meditieren verbringen.»
    Der rebbe warf einen kurzen Blick auf die Karte, die Baruch vor ihm auf die Schreibtischplatte gelegt hatte. «Du bist erst sieben Monate bei uns», sagte, er. «Du hast weder die Ausbildung noch die Vorbildung, die notwendig ist, um einen solchen Aufenthalt zu lohnen. Du hast keinerlei religiöse Erziehung genossen, nicht einmal das Minimum, das die meisten jüdischen Jungen bekommen, um sich auf die Bar Mizwa vorzubereiten.»
    Akiva senkte den Kopf. «Meine Eltern sind nicht religiös. Mein Vater ist Agnostiker, und ich wurde ebenfalls agnostisch erzogen. Ich bin nie wie die anderen Jungen in unserem Viertel zur jüdischen Schule gegangen, und wir gehörten auch nicht zur Synagoge.»
    «Deine Eltern leben hier in Philadelphia?»
    «Nein, ich komme aus Massachusetts, aus einer Kleinstadt nördlich von Boston. Barnard’s Crossing.»
    «Und wann hast du sie zuletzt gesehen?»
    Akiva errötete. «Na ja, seit einiger Zeit schon nicht mehr, aber ich telefoniere manchmal mit ihnen, vor allem mit meiner Mutter.»
    «Mit deinem Vater hattest du Streit.» Das war eine nüchterne Feststellung. Als wisse er genau Bescheid. «Erzähl mir davon.»
    «Mein Vater hat einen Drugstore, und als ich mein Apothekerexamen abgelegt hatte, half ich ihm im Geschäft. Aber wir haben uns nie richtig verstanden.»
    «Das war aber nicht der Grund, warum du fortgegangen bist – und nicht wieder heimkehren willst.»
    Akiva nickte bereitwillig, ja eifrig, um zu zeigen, dass er nichts verschweigen wollte. «Da gab es ein Lokal, das ich häufig besuchte, eine Art Nightclub. Die hatten ein Hinterzimmer, wo gespielt wurde …»
    «Und Mädchen?»
    «Ja, Mädchen hatten sie da auch. Na ja, eines Abends hatte ich nicht genug Geld bei mir, und ich gab ihnen einen Schuldschein über fünfzig Dollar. Dann kam jemand – nicht der Besitzer, sondern ein Mann, der behauptete, ihn von dem Besitzer gekauft zu haben – zu mir ins Geschäft. Nur dass der Schuldschein von fünfzig auf einhundertfünfzig rauffrisiert worden war.»
    «Hast du deinen Vater um das Geld gebeten?»
    «N-nein. Er hätte ja doch kein Verständnis dafür gehabt. Er ist … na ja, ziemlich spießig. Er wäre bestimmt zur Polizei gelaufen.»
    «Darum hast du das Geld aus der Kasse genommen, nicht wahr?» fragte der rebbe.
    Akiva nickte ohne jede Verlegenheit. Das war das Großartige an der Gruppe. Man konnte vollkommen aufrichtig sein. «Das war kinderleicht. Ich schloss morgens auf und abends ab, wissen Sie, darum machte ich auch die Kasse. Meistens rechnete ich abends ab, aber wenn ich’s mal eilig hatte, verschob ich’s auf den nächsten Morgen. Eines Morgens, als ich mal verschlafen hatte, schloss mein Vater das Geschäft auf. Ich wollte das Geld natürlich in ein paar Wochen wieder zurückgeben.»
    «Aber dein Vater erwischte dich, ehe du dazu Gelegenheit hattest.»
    «Ganz recht. Es gab einen fürchterlichen Krach, und ich bin weg.»
    «Wohin?»
    «Ach, ich bin einfach im Land rumgezogen. Eine Zeit lang war ich in Kalifornien. Und dann hab ich mich hier nach Philly zurückgejobbt.»
    «Warum hierher?»
    «Weil ich hier Pharmazie studiert habe. Daher kannte ich die Stadt.»
    «Und was hast du gemacht, während du im Land herumgezogen bist? Und seit wann bist du von zu Hause fort?»
    «Seit ungefähr drei Jahren. Meistens habe ich gearbeitet. Ich suchte mir einen Job in einem Drugstore – Apotheker waren gefragt – und arbeitete eine Weile, und dann zog ich weiter zum nächsten Ort.»
    «Weil du mit dir selbst im Unfrieden warst», stellte Reb Mendel nüchtern fest.
    «Nein, ich …» Ihm fiel ein, dass er dem rebbe nicht widersprechen durfte. «Ja. Aber ich wollte auch verschiedene Weltanschauungen ausprobieren. Eine Zeit lang habe ich mich mit Yoga beschäftigt, und mit Zen.» Er fasste Mut. «Wie ich hörte, haben Sie auch …»
    Reb Mendel lächelte, ein breites, sonniges Lächeln, das ebenmäßige
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