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Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Titel: Am Mittwoch wird der Rabbi nass
Autoren: Harry Kemelman
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nickte nachdenklich. Schließlich sagte er in einem Ton, der jede Widerrede ausschloss: «Diese Meinungsverschiedenheit mit deinem Vater beunruhigt mich. Es ist etwas, das du nicht vergessen kannst. Und darum ist es eine psychologische und geistige Infektion, die geheilt werden muss, weil sie sich sonst ausbreitet und deinen geistigen Niedergang auslöst. Kehre heim, Akiva. Kehre heim.»

3
    Als Rabbi Small den im Souterrain gelegenen Betraum der Synagoge betrat, in dem wochentags die Andachten abgehalten wurden, zählte er automatisch die Anwesenden und fragte dann, in der Hoffnung, dass einer oder mehrere Männer auf eine Zigarettenlänge hinausgegangen waren: «Sind wir zehn? Sind wir ein minjen?»
    «Nein, Rabbi. Sie sind der neunte, aber Chet Kaplan muss jeden Augenblick hier sein.»
    Der Rabbi fand, die Neuerweckung der Religion, von der Kaplan gesprochen hatte, habe es bisher noch nicht leichter gemacht, einen minjen zusammenzukriegen. Abends war das kein Problem, der religiöse Eifer war jedoch offenbar nicht stark genug, die Gemeindemitglieder zu veranlassen, morgens eine halbe Stunde früher aufzustehen, um noch zur Morgenandacht zurechtzukommen.
    Gleich nachdem er eingetreten war, hatte der Rabbi das schwarze Käppchen aufgesetzt, das er stets in der Tasche trug. Nun zog er die Jacke aus, knöpfte den linken Hemdsärmel auf und rollte ihn bis zur Schulter hoch. Von dem Stapel auf der Bank im Hintergrund des Betraums nahm er einen der schmalen, seidenen Gebetsschals, führte die Enden an seine Lippen und legte ihn sich, automatisch Segenssprüche murmelnd, um die Schultern. Aus dem kleinen blauen Samtbeutel, den er mitgebracht hatte, holte er die Phylakterien, die Gebetsriemen, Lederriemen mit kleinen schwarzen Kapseln, die Pergamentstreifen mit Zitaten aus der Bibel enthielten. Sie galten als «Mahnungen an Hand und Stirn … , dass euch der Herr mit mächtiger Hand aus Ägypten befreit hat». Er begann sie anzulegen: zuerst den Armriemen am linken Oberarm und somit dem Herzen am nächsten; dann den Stirnriemen, direkt unter dem Haaransatz. Seine Lippen bewegten sich, als er lautlos die entsprechenden Segenssprüche artikulierte.
    Die anderen hatten sich ebenso vorbereitet, saßen nun mitten im Raum und unterhielten sich, hauptsächlich über Hurricane Betsy, dessen Spuren die Wetterberichte während der letzten Tage aufmerksam verfolgt hatten und der immer noch das Gebiet um Boston berühren konnte. Irving Hovik, eine Art Amateur-Meteorologe, erläuterte mit ausholenden Gesten, er könne «…. immer noch abschwenken. Über dem Meer gewinnt er an Kraft, über Land verliert er sie. Wenn er also abschwenkt und direkt auf uns zukommt, kann es schlimm werden, aber wenn er südlich von uns abschwenkt und dann die Küste heraufkommt, verliert er eine Menge Kraft, versteht ihr? Es kommt eben drauf an, wie viel Schwung er hat.»
    Ganz an der Seite, am Ende des Mittelganges und abseits der anderen, entdeckte der Rabbi einen hoch gewachsenen jungen Mann, den er noch nie beim Gottesdienst gesehen hatte. Er trug sein blondes Haar lang und hatte einen dichten Bart. Bekleidet war er mit einer blauen Drillichjacke und blauen, in die Stiefel gestopften Jeans. Anstelle des schmalen, seidenen Gebetsschals, wie ihn alle anderen trugen, hatte er einen langen, wollenen, der ihm bis an die Knie reichte.
    Als ihn der Rabbi eben willkommen heißen wollte, ergriff der junge Mann mit jeder Hand ein Ende des wollenen Gebetsschals, hob die Arme, kreuzte die Hände vor dem Gesicht und schloss sich somit ganz in den Schal ein. Die Geste erinnerte den Rabbi an seinen Großvater, einen orthodoxen Rabbi; der hatte genauso vorübergehend die Welt ausgeschlossen, um sich ganz auf das Gebet und das Gespräch mit Gott zu konzentrieren. Während er hinübersah, begann sich dieser weiße Kokon wie in Ekstase langsam von einer Seite zur anderen zu wiegen. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf – mit einer Andeutung von Bedauern, von Verärgerung? –, dass er selbst die das Anlegen des Phylakterions und des Gebetsschals begleitenden Segenssprüche mit der Zeit mehr oder weniger automatisch hergesagt hatte.
    Jetzt kam Chester Kaplan hereingehastet, ein kleiner Mann von fünfzig Jahren mit Rundschädel und ewig lächelndem Gesicht. Er warf sein Jackett auf eine der hinteren Bänke und rollte den linken Hemdsärmel auf. «Sind wir zehn?» fragte er.
    «Jetzt ja. Du bist der Zehnte. Fangen wir an.»
    «Himmel, Chet, ein paar von uns armen
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