Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Titel: Am Mittwoch wird der Rabbi nass
Autoren: Harry Kemelman
Vom Netzwerk:
fühlt. Sie ist ein Kompromiss. Und ich vermute, dass die Konservativen eindeutig in der Überzahl sind, dass sie ihrer Einstellung nach aber von nahezu orthodox bis nahezu reformiert rangieren. Zumeist waren es in jedem Jahr zwei Männer der Mitte, zwei Konservative, die gegeneinander kandidierten. In diesem Jahr gehörte der andere Kandidat, Mr. Golding, eindeutig dem reformierten Flügel an. Darum stimmten die Orthodoxen, die Beinahe-Orthodoxen und der größte Teil der echten Konservativen für Mr. Kaplan. So einfach war das Ganze wahrscheinlich.»
    Als sie den Wagen des Rabbi erreichten, kam ihm plötzlich eine Idee. «Für wen haben Sie denn gestimmt, Mr. Tizzik?»
    Tizzik lächelte herablassend. «Hören Sie, Rabbi, ich hab sein Bier getrunken und seine Doughnuts gegessen. Was sollte ich machen? Ich habe für Kaplan gestimmt. Bei ihm weiß ich wenigstens, dass er zur Stelle sein wird, wenn ich heute Abend den Kaddisch sage, und dass er, falls nötig, vorbeten kann.»

2
    Da es Akiva Rokeachs erstes Gespräch mit dem rebbe sein sollte, meinte Baruch, der gabbe , er müsse ihm erklären, wie er sich zu verhalten habe. «Vergiss nicht, Akiva, dem rebbe widerspricht man nicht», dozierte er ernst. «Reb Mendel ist ein zaddik , das heißt ein frommer Mann, so etwas wie ein Heiliger.» Baruch war klein und gedrungen, mit schütterem, grauem Haar, das er aus der hohen Stirn zurückgekämmt trug, auf der, sobald er ärgerlich wurde, deutlich sichtbar eine blaue Ader pulsierte. Er hielt den Stummel einer filterlosen Zigarette zwischen seinem nikotinverfärbten Daumen und dem Zeigefinger, inhalierte einen letzten Zug und warf ihn dann bedauernd in einen Aschenbecher, wo er weiter vor sich hin glimmte. Er war ein sehr nervöser, reizbarer Mensch, in seiner Funktion als gabbe aber, als Sekretär und Faktotum des rebbe also, war er von Bedeutung. Denn nur über ihn führte der Weg zum rebbe . «Selbst wenn der rebbe sich scheinbar irrt», fuhr er jetzt fort, «wenn du zum Beispiel meinst, er hätte in seinen Ausführungen über das Gesetz falsch zitiert, darfst du ihn weder darauf hinweisen noch ihn korrigieren. Sondern du solltest über den Grund nachdenken, warum Reb Mendel absichtlich falsch zitiert hat.» Er hielt inne, um sich eine neue Zigarette anzuzünden. «Und vor allem, wenn er ein Urteil fällt, hast du es ohne Einwände hinzunehmen.»
    «Ich verstehe», sagte Akiva Rokeach bescheiden.
    Die Ader auf der Stirn des gabbe pulsierte ärgerlich über die Unterbrechung. «Er besitzt nämlich die tiefere Einsicht, weißt du, und man kann nicht erwarten, dass er so denkt wie du.»
    Diesmal nickte Akiva nur zustimmend. Er gehörte zwar schon seit über einem halben Jahr zu der Gruppe, aber erst jetzt sollte er Reb Mendel in seinem Arbeitszimmer zum ersten Mal allein gegenüberstehen, und diese Chance wollte er sich nicht verderben, indem er den gabbe unnötig reizte.
    Baruch musterte den jungen Mann, der vor ihm stand, mit unverkennbarer Missbilligung; sein langes Haar, den wirren blonden Bart, die geflickten, in die schweren Stiefel gestopften Jeans. «Hast du ein kvitl ?», fragte er mürrisch, und als Akiva ihn nicht verstand, übersetzte er ungeduldig: «Ein Gesuch, ein schriftliches Gesuch. Du erwartest doch wohl nicht, dass der rebbe wartet, während du ihm alles erklärst, oder?»
    «Ach so! Ja, gewiss. Hier ist es.»
    «Und ein pidjon ?»
    Akiva zog einen Fünfdollarschein aus seiner Brieftasche und überreichte ihn dem gabbe als Zeichen der Dankbarkeit dafür, dass der rebbe ihn allein empfing. Baruch warf einen Blick auf die Banknote und notierte sich etwas in seinem Buch.
    «Warte hier. Ich werde nachsehen, ob der rebbe jetzt Zeit für dich hat.» Er klopfte an die Tür des Studierzimmers, wartete einen Augenblick und trat dann ein, wobei er die Tür behutsam hinter sich ins Schloss zog. Kurz darauf kam er zurück und winkte dem jungen Mann, er könne eintreten.
    Akiva hatte Reb Mendel noch nie aus so großer Nähe gesehen. Bei den farbrengen , den festlichen Versammlungen, musste er sich als jüngstes Mitglied der Gruppe völlig zurückhalten. Und wenn der zaddik nach der dritten Mahlzeit am Sabbat die Thora auslegte und die Philosophie erklärte, hatte er stets am äußersten Ende des Gemeinschaftstisches gesessen, fast durch die ganze Länge des Saales von ihm getrennt.
    Jetzt saß Reb Mendel hoch aufgerichtet in seinem thronähnlichen Sessel hinter dem großen, geschnitzten Walnussschreibtisch. Er war –
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher