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Am Ende zählt nur das Leben

Am Ende zählt nur das Leben

Titel: Am Ende zählt nur das Leben
Autoren: Katja B.
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Besuche redet er jedoch nicht gern. Das ist seine Art des Umgangs mit der Katastrophe. Er hat Sarah geliebt, sie war seine kleine Enkeltochter, sein Sonnenschein. In Gedanken sehe ich ihn manchmal noch mit ihr spielen, so wie er jetzt mit Charlotte spielt.
    »Papa, es tut gut, über das zu sprechen, was passiert ist«, sage ich manchmal zu ihm, aber er kann es nicht.
    In der Zeit nach meiner Therapie versuchte ich ihm deutlich zu machen, wie wichtig es ist, seine Gedanken und Gefühle herauszulassen, und wie gut es der Seele tut. Ich drängte ihn förmlich dazu, wenigstens mit unserer Mutter das Gespräch zu suchen. Offenbar vergeblich. Der Schatten, der durch Cays erweiterten Selbstmord auf meine Eltern gefallen war, wollte einfach nicht weiterziehen, zu schwer fällt es ihnen, sich zu öffnen. Die dunkle Wolke hing unverrückbar über ihrem Leben und tut es noch immer. Dabei wünschte ich mir nichts sehnlicher als die wärmende Sonne über ihnen.
    Meine Mutter mied Friedhofsbesuche. Sie dachte jedoch immer an Sarahs Todestag, ohne ihn zu erwähnen. Wenn ich an jenem bestimmten Tag im Sommer nach meinem Gang zum Friedhof zu ihr kam, erwartete sie mich bereits. Bisher konnte ich mich immer darauf verlassen, dass sie an mich und unsere Sarah dachte. Ich stellte mir vor, wie vor ihrem inneren Auge der Film jenes unsäglichen Tages ablaufen musste.
    »Ich wusste, dass du heute kommst«, sagte sie, wenn ich aus dem Auto stieg.
    Sobald wir über Sarah sprachen, begann sie zu weinen. Auch mir kamen dann die Tränen, selbst wenn ich mich eigentlich stark zeigen wollte. Den Schmerz meiner Mutter konnte ich nicht ertragen.
    »Willst du nicht auch mal zum Friedhof gehen? Mit Papa. Probiere es doch einfach mal.«
    Meine Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf.
    So trauerte jeder auf seine eigene, einsame Art. Für mich war es schwer zu begreifen, wie die beiden mit den Ereignissen umgingen. Sie fraßen die Trauer regelrecht in sich hinein. Der Knoten schien immer fester zu werden, anstatt sich zu lösen und Momente der Zufriedenheit zu ermöglichen.
    »Er wollte nicht, dass Sarah einen anderen Vater bekommt«, sagte meine Mutter unvermittelt zu mir. Ich wusste sofort, was sie damit meinte. »Katja, er hat alles kaputt gemacht.«
    »Nein, das hat er nicht geschafft. Zum Glück nicht. Unser Leben geht weiter, auch in Erinnerung an Sarah. In guter Erinnerung an ein wunderbares Mädchen.«
    Mich belastete anfangs fast jeder Satz, den meine Mutter über das Geschehene äußerte. Am liebsten wäre ich davongelaufen. Ich konnte sie nicht auffangen, nicht in ihrer grenzenlosen Trauer und ihren Schuldgefühlen. Auch bei mir kamen regelmäßig ähnliche Gefühle an die Oberfläche, aber ich lernte, damit umzugehen. Ich hatte meinen Tresor, meine Techniken, meine Erklärungen, mein Verständnis und meinen Willen, ein erfülltes Leben zu führen, für mich und für meine Familie.
    Es würde mich glücklich machen, meine Eltern wieder glücklich zu sehen. Irgendwann musste doch die Zeit gekommen sein, hinaus zugehen, die Welt zu sehen, das Schöne zu sehen. Mein Vater schien eher bereit dazu, aber meine Mutter war zu verhaftet. Sie war jederzeit bereit, zu uns zu kommen, uns zu helfen, die Kinder zu beaufsichtigen, im Garten zu arbeiten, aber ein kleiner Ausflug, nur so zum Spaß, das war unvorstellbar für sie.
    Geh hinaus, und entdecke das Schöne! Diesen Satz habe ich aus meiner Therapie mitgebracht, und ich wünschte mir so sehr, meine Mutter könnte ihm folgen. Es gibt noch etwas anderes zu sehen als das heimische Umfeld mit seinen Erinnerungen.
    Nicht einen einzigen Tag hat meine Mutter unseren Heimatort seither verlassen. Es gab keinen einzigen Tag, an dem sie nicht voller Kummer an Sarah dachte und die Uhr zurückstellen wollte. Zurück auf die Tage vor den tragischen Ereignissen.
    Wenn Anja und ich in ihrem Beisein über Sarah sprachen und über mein wunderbares Mädchen scherzten und lachten, dann blockte meine Mutter diese Gespräche ab oder ging in einen anderen Raum. Sie wollte allenfalls über das tragische Ende von Sarahs kurzem Leben sprechen. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, über ihre Enkeltochter zu lachen. Alles ist nur furchtbar! Cay hat alles kaputt gemacht.
    Dabei wollen Anja und ich mein Engelchen doch nur in guter Erinnerung behalten und all das Schöne sehen und bewahren. Aber davon ist meine Mutter weit entfernt.
    Anja und ich hingegen amüsieren uns gern über Sarahs lustiges Wesen.
    »Weißt du noch, als
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