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Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht

Titel: Am Ende der Nacht
Autoren: Marcia Muller
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seine Vergangenheit.«
    »Gar nicht?«
    »Gar nicht.«
    »Das erklärt immer noch nicht, warum
Sie keine Vermißtenanzeige erstattet haben.«
    »Ach, verdammt!« Sie biß sich auf die
Unterlippe und sah aus dem Seitenfenster.
    Ich konzentrierte mich auf die
Vollendung der Kurve. Ließ ihr Zeit. Meine Augen suchten den Himmel nach
anderen Flugzeugen ab, aber ich konnte keine entdecken. Obwohl es ein wunderschöner,
klarer Novemberfreitag war, war weder auf dem Weg hierher noch auf den beiden
Flugplätzen viel los gewesen. Ich leitete die Kurve wieder aus, richtete die
Cessna gerade und bewunderte den Goldschimmer, den die spätherbstliche Sonne
auf die braunen Hügel goß.
    Als ich das Gefühl hatte, daß Matty
sich wieder verschloß, sagte ich: »Sie haben keine Anzeige erstattet, weil Sie
denken, John ist aus eigenem Willen verschwunden und wird sauer, wenn er
zurückkommt und Sie die Polizei auf ihn angesetzt haben.«
    »...So in der Art.«
    »Und Sie glauben, sein Verschwinden
hängt mit dieser Vergangenheit zusammen, über die er nicht spricht.«
    »Ja.«
    »Warum glauben Sie das?«
    »Nur so ein Gefühl.«
    »Unter welchen Umständen ist er denn
verschwunden?«
    »Keine Ahnung. Ich war weg, auf einem
Charterflug, mußte ein paar Geschäftsleute nach Monterey runterbringen.«
    »Sie unterrichten nicht nur, Sie bieten
auch noch Charterflüge an?«
    »Klar. Das ist eine gute Möglichkeit,
ein bißchen zusätzliches Geld zu verdienen, und die Strecken kenne ich so gut,
daß ich sie im Schlaf fliegen könnte. Einen Überlandflug in unbekanntes Terrain
habe ich seit zehn Monaten nicht mehr gemacht; wahrscheinlich habe ich völlig
vergessen, wie man einen Kurs zeichnet. Was keine Beschwerde sein soll, ich bin
gern daheim.«
    »Dann waren Sie also in Monterey, an
dem Tag, als John verschwand?«
    »Ja. Als ich wieder zurückkam, war er
nicht da, und einer von den Pickups war weg. Es war schon spät, aber ich habe
mir nichts dabei gedacht, ich bin einfach schlafen gegangen. Am nächsten Morgen
war ich dann aber doch beunruhigt — er war noch nie über Nacht weggeblieben —
und habe mich erst mal richtig umgeguckt. Sein Rasierzeug, sein Seesack, sein
Rucksack und ein paar Kleidungsstücke von ihm fehlten. Und auch eine von den
Pistolen — eine vierundvierziger Magnum.«
    »Und vorher hat gar nichts darauf
hingedeutet, daß er weg wollte?«
    »Na ja, vielleicht doch. Ein paar Tage
vorher wollten wir eigentlich zusammen hier im Diner zu Mittag essen, aber als
ich von meiner Elf-Uhr-Stunde zurückkam, war er sehr nervös — erregt, kann man
sagen — , und er meinte, das mit dem Essen würde nicht klappen. Irgendein
Problem auf der Baumfarm, hat er behauptet, aber mehr wollte er dazu nicht
sagen. Die Tage darauf war er kaum zu Hause, bis zu dem Abend, bevor ich nach
Monterey mußte.«
    »Und was war an dem Abend?«
    »Es war ein ganz gewöhnlicher Abend zu
Hause, nur daß er... na ja, liebevoller war als sonst.«
    »Als ob er sich verabschieden wollte?«
    Sie preßte die Lippen aufeinander und
schüttelte den Kopf, nicht willens, diesen Gedanken an sich heranzulassen.
    Ich ging in eine Steilkurve, weil ich
dachte, es sei an der Zeit, zum Flugplatz zurückzukehren. »Okay, was genau
wissen Sie über John?«
    »Sehr wenig. Er kam vor zehn Jahren mit
seinem kleinen Sohn hierher und kaufte fünfzig Prozent von dieser
dahinsiechenden Baumfarm. Er sagt, Bäume gehören zu den wenigen Dingen, von
denen er wirklich was versteht, und er muß ziemlich viel Ahnung davon haben,
weil die Farm jetzt einen hübschen Profit abwirft und er letztes Jahr den
Anteil seines Partners aufkaufen konnte.«
    »Moment mal — er hat einen Sohn?«
    »Zachary — er ist elf.«
    »Lebt er bei Ihnen?«
    »Ja. Er ist ein netter Junge, wir
kommen gut miteinander klar. Und ich glaube, John vertraut mir, daß ich mich
gut um ihn kümmere.« Sie hielt nachdenklich inne. »Zach hat es die letzten
Jahre nicht leicht gehabt. Er ist neugierig, will wissen, wo er geboren ist und
wie seine Mutter war — normal für sein Alter. Aber John will nicht drüber
reden, und das treibt einen Keil zwischen die beiden, obwohl ein Junge doch
gerade in diesem Alter seinen Vater braucht. Es gibt keine Familienfotos. John
kriegt nie Briefe von Verwandten — oder von sonst irgendwem. Es ist, als wollte
er alles auslöschen, was vorher war — bevor er hierhergekommen ist.«
    »Und Sie haben ihn nie gefragt, warum?«
    »Nein.«
    Den meisten Leuten würde es wohl
komisch
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