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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik
Autoren: Alissa Walser
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Mutter.
    Selbstverständlich, sagt der Vater, werde seine Frau den Raum verlassen. Er winkt sie zur Tür.
    Mesmer schaut ungläubig von einem zum andern.
    Er werde, sagt der Vater, sich mit einer Ecke begnügen. Betrachten Sie diese als nicht existent.
    Mesmer schüttelt den Kopf.
    Aber sehen Sie doch. Der Vater weist auf das Mädchen. Wie ihr Leib schon wieder zittert. Ein Tanz wie an Fäden, an Fäden draußen im Sturm, und ohne Begleitung.
    Schön gesagt!, sagt Mesmer, und überhaupt sei ihr Zittern ein gutes Zeichen. Und darum, sagt Mesmer, schlage er vor, die Patientin in sein magnetisches Haus-Spital aufzunehmen.
    Ob er jetzt nicht etwas übertreibe.
    Aber nein, Übertreibungen lägen ihm ganz und gar fern.
    Mit Herrn von Störck und Herrn Barth sei man auch einig geworden. Man habe sie zweimal die Woche zur Behandlung vorbeibringen lassen.
    Mit diesen Herren, sagt Mesmer, könne man ihn nun nicht vergleichen, so wenig, wie seine Methode mit einer der ihren.
    Meine Tochter geht mir nicht so einfach aus dem Haus, sagt der Vater.
    Das Pianoforte. Sie brauche das Klavier. Tägliches Üben sei ihr wie Atmen. Er wisse doch, die professionelle Laufbahn …
    Auch er selbst, sagt Mesmer, halte Müßiggang für den Anfang jeder Krankheit. Umso größer das Glück, dass auch in seinem Haus ein Pianoforte stehe, ganz zu ihrer, der Tochter, Verfügung. Und um genau zu sein, sagt er, eines mit englischer Mechanik. Eine Nuance schwerer im Anschlag. Geeignet, zarte Hände und Finger zu kräftigen. Müde mache es nur, solange man nicht genug geübt habe. Danach spiele es sich darauf wie im Schlaf, und der Klang sei ein Traum.

Drittes Kapitel
21. Januar 1777
    Er hat kaum geschlafen. Bis spät in die Nacht hat er Notizen gemacht. Sie immer wieder durchgelesen. Und sich gefragt, ob die Notizen sich nicht zwischen ihn und dieses Mädchen schieben könnten. Wie viel von dem, was er aus Angst, es zu vergessen, notiere, tatsächlich noch etwas mit dem Fräulein zu tun habe.
    Bis seine Frau ihn rief, und er tat, als höre er nicht. Obwohl er ihrem Ruf meist gern folgte. Nur drängte eben jetzt ein letzter Gedanke nach einer letzten Notiz. Bis Anna, in Nachthemd und Haube, in der linken Hand eine Kerze und in der rechten Hand eine Kerze, hinter ihm stand und er einen ihrer flammenden Wutausbrüche fürchtete, falls er sie weiterhin ignorierte. Er habe nichts gehört. Gehe die Notizen durch zum neuesten Fall. Ja, es sei schon halb gelungen, Fräulein Paradis sei ab morgen seine Patientin. Anna beglückwünschte ihn, bat, er solle ihr alles über die berühmte Blinde berichten, und alles, was er vorhabe mit ihr. Sie wolle in diesen Fall von Anfang an einbezogen sein. Sie habe schon so viel von ihm gelernt, und noch viel mehr von ihm zu lernen. Besagte Methode. Sie freue sich.
    Er stand auf, ließ die Notizen auf dem Tisch liegen, folgte ihr, die noch über den neuen Fall plaudern wollte, die Treppe hinauf. Er war froh, als er sich neben sie ins Bett legen konnte. Und sie seinen Kopf zwischen die Hände presste und ihn solange auf den Mund küsste, bis er zurückküsste und ihr das Nachtkleid hinaufschob. Die Töne, die sie dann von sich gab. Wie Töne von kleinen emsigen Tieren, dachte er, die nicht verstehen müssen, was sie tun. Ganz bei der Sache sind. So vertieft ineinander, dass sie zu schreien beginnen. Als sie zu schreien begann, streichelte er ihren Mund, folgte den Schatten der Lippen und legte, um sich zu bremsen, seine Hand darüber. Sie schlug die Augen auf, nur kurz, und verstummte. Das hatte er nicht erwartet. Eher das Gegenteil. Er mochte ihre Stimme. Und er vermisste sie sofort.
    Die Stimme gibt Auskunft über einen Menschen, fiel ihm ein. Sie ist seine Tonart, wie seine Farbe. Die Stimme eines Menschen lässt ahnen, wo, in welcher Temperaturregion er zu Hause ist. Im Kalten, wie die zum Kreuz bekehrten Grönländer, oder im Warmen, wie die zum Kreuz bekehrten Rapa Nui der Osterinseln und seine Frau.
    Anna war längst eingeschlafen, da dachte er immer noch über Stimmen nach.
    Vor allem über die eine, die ihm fehlte, weil sie kaum etwas gesagt hatte: die der neuen Patientin. Hier war ja der Vater die Stimme der Tochter. Ob sie, wenn mit ihren Eltern allein, mehr sprach? Bevor er mit der Behandlung begann, wollte er ihre Stimme hören. Die Überlegung, wie er das anstellen solle, hielt ihn wach. Dann läutete, in aller Frühe, die Patientenglocke. Schon am Läuten hörte er, wer da läutete. So lange und drängend
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