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Am Anfang eines neuen Tages

Am Anfang eines neuen Tages

Titel: Am Anfang eines neuen Tages
Autoren: Lynn Austin
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benutzt?“
    „Natürlich. Und wenn ich muss, werde ich es auch tun. Ich schlage vor, du holst auch die Pistole, die dein Mann dir hinterlassen hat.“
    „Aber ich … Ich glaube nicht, dass ich …“
    „Du musst ja nicht damit schießen, Olivia. Schon wenn du sie auf jemanden richtest, ist das eine Abschreckung.“
    Olivia ging in das Arbeitszimmer ihres Mannes und holte die Pistole samt der Munition. „Hier, Eugenia. Du musst sie für mich laden.“ Mutters Hände waren ganz ruhig, als sie die Waffe lud. Die beiden Frauen saßen mit den Pistolen auf dem Schoß da, während Tante Hattie im Kerzenlicht weiter aus der Bibel vorlas.
    „‚Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht …‘“
    „Wir verlieren den Krieg, nicht wahr?“, sagte Josephine, als Hattie zwischen zwei Versen eine Pause machte. Alle starrten sie in der Dunkelheit an. „Die Armee von General Lee flieht und die Yankees werden Richmond erobern. Der Krieg ist vorbei und wir haben verloren.“
    „Es gab früher auch Rückschläge“, erwiderte ihre Mutter. „Aber wir kämpfen für eine gerechte Sache. Virginia ist der Union freiwillig beigetreten und wir haben jedes Recht, sie zu verlassen. Das Recht ist auf unserer Seite.“
    „Aber können wir nicht recht haben und trotzdem verlieren?“, fragte Josephine. Niemand antwortete ihr. „Glaubt ihr, Gott bestraft uns?“
    „Nein! Wofür denn?“, sagte ihre Mutter. „Wir wollen doch nur in Frieden leben, wie wir es immer getan haben. Der Feind versucht uns zu erobern und zu Veränderungen zu zwingen, aber ich war in Philadelphia und habe gesehen, wie sie im Norden leben – und glaub mir, das Leben dort ist unserem deutlich unterlegen.“
    „Inwiefern ist es denn anders?“, wollte Josephine wissen. „Ich weiß, dass sie keine Sklaven haben, aber –“
    „Sie denken nur ans Geld. Sie kritisieren uns vielleicht dafür, wie wir unsere Sklaven behandeln, aber die Einwanderer behandeln sie viel schlimmer. Wenigstens versorgen wir unsere Arbeiter mit Essen und Unterkunft. Im Norden schert es niemanden, ob diese armen Fremden auf der Straße verhungern. Der Norden hat nichts von der Großherzigkeit unseres Lebensstils und sie beten den allmächtigen Dollar an. Für uns sind die wichtigsten Dinge unsere Familien und unser Land und unsere Traditionen.“
    „Aber wenn wir den Krieg verlieren –“, begann Josephine.
    „Ob wir gewinnen oder verlieren“, unterbrach Tante Hattie, „wir müssen lernen zu beten, wie Jesus es in seiner dunkelsten Stunde getan hat: ‚Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.‘“
    „Wenn der Krieg wirklich zu Ende ist, hört wenigstens das Töten auf“, murmelte Tante Olivia. „Wir haben schon so viele unserer Lieben verloren.“ Ihre Pistole lag schlaff auf ihrem Schoß; Jos Mutter hielt ihre fest umklammert.
    „Wenn General Lee sich ergeben muss“, sagte Mutter, „dann nur deshalb, weil sie zahlreicher sind, und nicht, weil sie besser gekämpft haben als wir.“
    „Ich wünschte nur, wir wüssten, was als Nächstes geschieht“, sagte Tante Olivia, „und wann das alles ein Ende hat.“
    „Ich wünschte, wir müssten nicht immerzu Angst haben“, fügte Mary hinzu. Sie kaute schon wieder an ihren Fingernägeln. Josephine streckte den Arm aus, nahm die Hand ihrer Schwester und umschloss sie. Einen Augenblick später löschte Tante Hattie die Kerze und der Raum lag in völliger Dunkelheit. Eine von Josephines Cousinen begann zu weinen.
    „Stellt euch vor, wie dunkel es den Jüngern Jesu nach Golgatha erschienen sein muss“, sagte Hattie. „Ihr Messias war tot. Alle Hoffnung war verloren. Aber dann kam die Auferstehung am Ostersonntag, nicht nur für Christus, sondern für uns alle. Der Allmächtige hat uns bis heute bewahrt, und wir können ihm auch vertrauen, was den morgigen Tag betrifft.“
    Und was ist, wenn der morgige Tag noch schlimmer ist?, hätte Josephine am liebsten gefragt, aber sie behielt ihre Gedanken für sich. Tante Hattie fing an, Choräle zu singen, aber Jo stimmte nicht mit ein. Diese Nacht kam ihr wie die längste ihres Lebens vor, während sie dort saß und auf die Morgendämmerung wartete. Erschöpft lehnte Josephine sich schließlich an ihre Schwester und nickte ein.
    Eine gigantische Explosion riss sie aus dem Schlaf. Der Knall erschütterte das ganze Haus und ließ die Fensterscheiben erzittern. Mary sprang vom Sofa und lief in die Arme ihrer Mutter, Josephines Cousinen schluchzten und jammerten und unten in der Küche
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