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Am Anfang eines neuen Tages

Am Anfang eines neuen Tages

Titel: Am Anfang eines neuen Tages
Autoren: Lynn Austin
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all ihren zweiundzwanzig Jahren hatte Jo versucht, gut zu sein und zu tun, was in der Bibel stand, aber Gott hatte sich nicht um sie gekümmert. Und er hatte auch kein einziges ihrer Gebete während dieser endlosen Kriegsjahre erhört. Sie hatte ihn gebeten, ihre beiden Brüder zu beschützen, als sie in die Schlacht gezogen waren, aber Samuel war getötet worden und von Daniel hatte seit Wochen niemand mehr etwas gehört. Sie hatte Gott angefleht, auf Daddy aufzupassen, nachdem die Reserveeinheit ihn zum Wehrdienst eingezogen hatte, aber er war letzten Winter an einer Lungenentzündung gestorben. Josephine hatte den Allmächtigen inständig gebeten, auf sie und Mary und ihre Mutter achtzugeben, die drei Frauen, die auf ihrer großen Plantage ganz allein zurückgeblieben waren, mit einer Übermacht an Sklaven. Als Antwort hatte er eine Flut Yankees über das Land geschickt, sodass ihre Familie gezwungen gewesen war, hier in Richmond Zuflucht zu suchen. Sie wusste nicht, ob sie die White Oak Plantage jemals wiedersehen würde.
    In den Monaten, die sie nun schon hier bei Tante Olivia lebten, in beengter Gemeinschaft mit anderen geflohenen Verwandten, hatte Josephine inständig für ihr tägliches Brot und die Erlösung vom Übel gebetet, aber Hunger und Angst hatten gleichzeitig in diesem Haus in Church Hill Einzug gehalten. Der Morgen war nicht angebrochen; der Albtraum wollte kein Ende nehmen. Und deshalb hatte Josephine gestern Morgen in der Kirche beschlossen, dass Beten Zeitverschwendung war. Der Allmächtige tat sowieso, was er wollte, ungeachtet ihrer Bitten. Sie würde nicht um Schutz vor dem Feuer oder vor dem sich ausbreitenden Chaos angesichts der bevorstehenden Yankeeinvasion bitten. Wenn einem unzählige Male der Stuhl unter dem Allerwertesten weggezogen worden war, versuchte man nicht mehr, sich hinzusetzen.
    „Hast du keine Angst, Jo?“, fragte Mary.
    „Nein.“ Es kam ihr so vor, als wären alle Gefühle aus ihr herausgequetscht worden, auch die Angst. So oder so würden die Unsicherheit und der Kummer irgendwann enden, entweder durch Tod oder durch Befreiung. Jo war das Ende inzwischen gleichgültig. Sie wünschte sich nur noch, dass es bald kommen würde.
    Sie hörte Schritte, und als sie sich umdrehte, sah sie ihre Mutter Eugenia in die Tür zum Schlafzimmer treten. Mary sah sie auch und rannte in ihre Arme. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“, fragte Mary. Josephine fürchtete sich vor der Antwort ihrer Mutter.
    „Der Colonel war so freundlich und hat uns kurz Bescheid gesagt, bevor er abgereist ist. Er sagte, wir sollen uns keine Sorgen machen, der Rauch komme von den Feuern vor dem Capitol. Die Regierung packt nur die wichtigsten Dokumente zusammen und verbrennt den Rest. Wahrscheinlich werden sie auch den Tabak und die Baumwolle verbrennen, die in den Hallen der Stadt gelagert sind, damit die Yankees nicht davon profitieren.“
    Jo betrachtete das schöne Gesicht ihrer Mutter, das sonst so heiter und gelassen aussah, und erkannte an der steilen Falte zwischen ihren dunklen Augenbrauen, dass es noch mehr schlechte Nachrichten gab. „Was hat der Colonel noch gesagt? Plündern die Leute immer noch die ganzen Geschäfte?“
    Mutter zögerte und sagte dann: „Ja. Er hat uns gewarnt, dass wir uns nicht in die Einkaufsstraßen begeben sollten, und deshalb … Ich will euch nicht beunruhigen, Mädchen, aber ich glaube, wir sollten besser packen, für alle Fälle.“
    „Gehen wir mit jemand anderem zusammen weg?“, fragte Mary.
    „Noch nicht“, sagte Mutter und strich über Marys dunkle Haare. Josephine erinnerte sich an die tröstende Geste aus der Zeit, als sie noch ein Kind gewesen war und auf dem Schoß ihrer Mutter gesessen hatte, sicher in ihren Armen. Aber jetzt war sie zu alt, um zu ihrer Mutter zu laufen, und für ihren Kummer gab es keinen Trost. Außerdem musste Mutter mit ihrer eigenen Trauer fertig werden. „Wir warten noch eine Weile hier“, sagte Mutter, „aber ich finde, wir sollten zum Aufbruch bereit sein, wenn es sein muss.“
    „Nehmen wir alles mit?“, fragte Jo. Sie betrachtete die Koffer und Kisten mit ihrem Hab und Gut, die in ihrem winzigen Schlafzimmer gestapelt waren. Der Krieg hatte so an ihrem Leben gerüttelt, wie Wind und Frost die Blätter von den Bäumen rissen. Ihr früher üppiges Leben ließ sich inzwischen auf diesen einen Raum beschränken.
    „Diesmal packen wir nur das ein, was wir unbedingt brauchen“, sagte Mutter. „Und nur, so viel wir
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