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Am Anfang eines neuen Tages

Am Anfang eines neuen Tages

Titel: Am Anfang eines neuen Tages
Autoren: Lynn Austin
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schrien Sklaven auf.
    „Die Yankees bombardieren uns!“, sagte Tante Olivia. „Ihre Kanonenboote müssen den James River hinaufgekommen sein.“
    Es folgten weitere Explosionen, eine nach der anderen, wie hundert Kanonenschläge, bis die ganze Erde zu beben schien. Josephine rannte nach oben, um aus dem Fenster zu sehen, von dem aus man den besten Blick auf die Stadt hatte, und sah Flammen in den Himmel lecken unter Wolken aus dickem, dunklem Rauch. Das war kein Lagerfeuer wie gestern. Die Stadt brannte. Sie stolperte die Treppe hinunter, um es den anderen zu erzählen. „E-es sieht so aus, als stünde die ganze Stadt in Flammen.“ Alle starrten sie an, stumm vor Entsetzen.
    Tante Hattie ergriff als Erste das Wort. „In der Bibel steht, am Ende der Zeiten ‚werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen.‘“
    Hör auf!, hätte Jo am liebsten geschrien. Hör einfach auf! Du hast gesagt, der morgige Tag würde besser, aber das ist er nicht! Ihre Schwester und ihre Cousinen konnten nicht aufhören zu weinen und Jo hatte den Eindruck, dass das Ende der Welt tatsächlich gekommen war. Sie konnten nichts anderes tun, als darauf zu warten. Tante Hattie versuchte, alle zum Gebet zu versammeln, aber Jo wollte nichts damit zu tun haben. „Ich halte Ausschau, für den Fall, dass das Feuer sich in diese Richtung ausbreitet“, sagte sie. Dann stieg sie allein wieder die Treppe hinauf.
    Josephine hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, aber schließlich ging die Sonne auf und der Himmel wurde heller. Zwischen den Häusern und Bäumen hindurch konnte sie ein kleines Stück der Franklin Street sehen, auf der eine sich bewegende dunkelblaue Mauer den Hügel hinunter in Richtung Innenstadt marschierte, geradewegs auf die Flammen zu. Die Wagenräder und die marschierenden Füße dröhnten wie Donnerschläge. Der Feind war eingetroffen.
    Wenn Gott gut war und wenn er Josephine und ihre Familie liebte, wie hatte das dann geschehen können? Sie hatte gebetet! Das hatten sie alle getan. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen und weinte, nicht um ihre verlorene Nation, sondern um ihren verlorenen Glauben.
    Eine weitere Stunde oder noch mehr verstrich und die Sicht wurde aufgrund des Rauches immer schlechter. Josephine trocknete ihre Tränen und ging nach unten, um sich wieder zu den anderen zu gesellen. Kurz darauf erschien erneut der Nachbar an der Tür. Diesmal führte Tante Olivia ihn herein, damit alle die Nachrichten hören konnten.
    „Die Yankees sind hier“, sagte er leise. „Richmond hat sich ergeben. Die Explosionen, die wir vor Tagesanbruch gehört haben, waren unsere eigenen Kanonenboote, die Virginia, die Beaufort und die Richmond . Wir haben sie im Hafen in die Luft gejagt, damit die Yankees sie nicht bekommen.“
    „Es sieht so aus, als stünde die Stadt in Flammen“, sagte Josephine.
    „Ja, das Industriegebiet brennt und unsere Feuerwehr und Polizeikräfte sind nirgends zu sehen. Aber die Yankees bemühen sich, die Flammen zu löschen. Church Hill müsste in Sicherheit sein.“
    „Wie konnte das passieren?“, fragte Tante Olivia. Niemand antwortete.
    „Wenigstens haben wir das Schlimmste hinter uns“, sagte Tante Hattie. Sie war die Einzige, die nicht geweint hatte. „Von jetzt an werden wir allem, was geschieht, mit Gottvertrauen entgegensehen.“
    Jo wollte nichts mehr davon hören. Sie ging in ihr Zimmer zurück, mit einem Glauben an Gott, der ebenso in Stücke gerissen worden war wie die konföderierten Kanonenboote. Warum sollte sie beten, wenn Gott doch nicht zuhörte? Außerdem wäre ihr einziges Gebet gewesen, dass die konföderierte Armee sich ergab und der Krieg endlich aufhörte – und wenn sie das laut sagte, würde ihre Familie sie als Verräterin bezeichnen. Aber warum weiterkämpfen? Warum diesen Albtraum verlängern?
    Josephine öffnete ihr Tagebuch, klappte es aber gleich wieder zu. Es enthielt ihre Vergangenheit, aber von ihrem alten Leben war nichts mehr übrig. Alles, was sie in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren gelernt hatte, würde revidiert werden müssen. Nicht nur zurückgeschnitten und gesäubert, wie die Sklaven zu Hause die Büsche schnitten und das Unkraut jäteten, sondern ausgegraben und mitsamt Wurzeln herausgerissen, damit dort etwas ganz Neues gepflanzt werden konnte.
    Jo glaubte immer noch an Gott; nur ein Narr konnte die Existenz eines Schöpfers leugnen. Aber sie glaubte nicht mehr an das Beten
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