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Am Anfang des Weges

Am Anfang des Weges

Titel: Am Anfang des Weges
Autoren: Richard Paul Evans
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sind, als Sie zwölf Jahre alt waren?«
    »Nur dass ich gestorben bin.«
    Ich wusste immer noch nicht, was sie damit meinte. »Aber Sie sind doch nicht tot.«
    »Nein. Ich bin zurückgekommen.«
    »Zurück vom Tod?«
    Sie nickte.
    Ich war schon immer fasziniert von Geschichten über Nahtoderfahrungen. »Würden Sie mir davon erzählen?«
    Sie sah mich kurz an, dann sagte sie: »Lieber nicht. Die Leute reagieren meist ein bisschen …« Sie wählte das Wort vorsichtig. »… verstört darauf.«
    »Bitte. Es würde mir sehr viel bedeuten.«
    Sie sah mich kurz an, dann seufzte sie. »Na schön. Essen Sie, und ich rede.«
    Sie nahm auf dem Stuhl mir gegenüber Platz. »In dem Sommer, als ich zwölf war, kletterten mein kleiner Bruder und ich auf einen Baum in unserem Vorgarten. Uns war gar nicht aufgefallen, dass der Baum in eine Stromleitung hineingewachsen war, und während ich hochkletterte, griff ich versehentlich nach einem Kabel. Ich weiß nur noch, dass es einen hellen Blitz und einen lauten Knall gab. Siebentausend Volt schossen durch meinen Körper. Sie rissen sogar Löcher in den Hosenboden meiner Keds. Mein Fleisch schmolz an der Stelle, wo ich nach der Leitung gegriffen hatte.« Sie hob ihre Hand. »Das ist mir davon geblieben.« Eine tiefe, gefurchte Narbe zog sich quer über ihre Finger. Sie sah mich an. »Sie essen ja gar nichts.«
    »Entschuldigung.« Ich nahm aus Höflichkeit einen Bissen.
    »Ich stürzte etwa vier Meter tief auf die Erde. Mein Bruder kletterte den Baum hinunter, rannte ins Haus und schrie nach meiner Mutter. Das wusste ich, weil ich ihm ins Haus folgte. Ich wusste gar nicht, was los war, bis die Tür vor mir zuknallte und ich einfach hindurchging.«
    Ich sah sie fragend an. »Sie meinen, Ihr Geist?«
    »Mein Wesen«, sagte sie, als hätte sie etwas gegen das Wort Geist . »Meine Mutter kam aus dem Haus gerannt, und wir liefen alle zu meinem Körper. Ich kann Ihnen sagen, es ist schon seltsam, auf sich selbst hinunterzusehen. Man würde es nicht vermuten, aber wir nehmen uns selbst so wahr, wie wir uns auf Bildern oder im Spiegel sehen – immer zweidimensional. Mir wurde bewusst, dass ich mich selbst noch nie wirklich gesehen hatte. Nicht so, wie andere mich sehen. Ich sah anders aus, als ich gedacht hatte.
    Meine Mutter schüttelte meinen Körper, und ich stand da, neben ihr, und sah ihr dabei zu. Ich sagte: ›Ich bin hier drüben, Mom‹. Aber sie konnte mich nicht hören. Sie legte nur ein Ohr auf meine Brust.
    Auf einmal war vor mir ein Licht. Man hört ja oft Leute von dem Licht reden. Sie sagen, geh aufs Licht zu. Ich glaube nicht, dass ich auf das Licht zuging. Ich glaube vielmehr, dass es auf mich zukam. Es war einfach da und ging durch mich hindurch.
    Auf einmal war ich irgendwo anders, und ein Wesen aus Licht stand neben mir. Ich verspürte dieses Gefühl absoluter Freude, wie in den schönsten Momenten meines Lebens, bei allen Weihnachtsfesten und Sommerferien und neuen Lieben. Es fühlte sich an wie alles zusammen, aber es war noch schöner. Das Gefühl war unbeschreiblich.
    Das Wesen sagte mir, dass ich noch gar nicht dort sein solle und dass ich zur Erde zurückkehren müsse. Ich weiß noch, dass ich nicht gehen wollte. Ich flehte Ihn an, mich bei Ihm bleiben zu lassen. Aber Er sagte, dass ich nur für kurze Zeit fort sein würde und dass ich wiederkommen könne, nachdem ich meine Mission erfüllt hätte.
    Und dann war ich auf einmal wieder in meinem Körper. Ich lag auf der Erde, und ich fing vor Schmerzen an zu weinen. Meine Mutter erzählte mir an jenem Abend, dass mein Herz nicht mehr geschlagen hätte und dass sie gedacht hätte, dass ich tot sei. Erst Jahre später erzählte ich ihr, was mir passiert war.«
    »Hat sie Ihnen geglaubt?«
    »Ja. Sie hat mir immer geglaubt. Ich habe ihr nie einen Grund gegeben, an meinen Worten zu zweifeln.«
    »Was hat sie gedacht?«
    »Ich weiß nicht, was sie gedacht hat, aber sie sagte, sie sei froh, dass ich gezwungen wurde, zurückzukommen.«
    »Und was war das für eine Mission, die Sie eben erwähnten?«
    »Jeder hat einen Zweck, zu dem er auf die Erde kommt. Ich hatte meinen noch nicht erfüllt.«
    »Und was ist Ihre Mission?«
    »Nichts, was Schlagzeilen machen wird, falls Sie das meinen. Ehrlich gesagt habe ich mein Leben lang versucht, das herauszufinden. Ich habe Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass die Suche der Weg war . Es war ganz einfach. Meine Mission ist es, zu leben und zu akzeptieren, was immer meinen Weg kreuzt,
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