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Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Autoren: Mary Mackey
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Luma setzte sich, und Marrah nahm ihr gegenüber Platz, holte das Brot der Finsternis aus ihrem Beutel, betrachtete es einen Moment und zerbrach es in zwei ungleiche Hälften. Sie gab Luma das kleinere Stück und behielt das größere für sich selbst. »Gib mir den Schlauch«, sagte sie.
    Luma reicht ihr den Wasserschlauch, und Marrah legte das gebogene Stückchen Brot der Finsternis auf ihre Zunge und spülte es mit einem Schluck Wasser herunter. Luma war nicht ganz wohl dabei, als sie sich das Brot der Finsternis auf die Zunge legte, aber es schmeckte nach gar nichts. Es war hart, wie ein Stückchen Nußschale. Sie trank einen Mundvoll Wasser und schluckte es herunter.
    »Gut. Jetzt müssen wir uns an den Händen fassen, die Augen schließen und Batal bitten, uns zu sagen, was wir tun können, um Kerus Leben zu retten.« Marrah legte eine kurze Pause ein. »Egal, was du siehst, hab keine Angst. Und ganz gleich, was passiert, laß meine Hände nicht los und steh nicht auf und lauf davon!«
    Luma wollte sie so viele Dinge fragen, daß sie gar nicht wußte, wo sie anfangen sollte. Wie lange würde es dauern, bis die Vision eintrat? Durfte sie die Augen wieder öffnen, nachdem sie sie geschlossen hatte? Was glaubte Marrah, was sie sehen könnte, das so schrecklich war, daß sie versucht sein würde, in Panik davonzulaufen? Was, wenn die Sache nicht funktionierte? Konnten sie es noch einmal versuchen? Aber Marrah hatte ihr das Fragen verboten. Gehorsam ergriff Luma die Hände ihrer Mutter. Sie waren glatt und kühl.
    »Fertig?«
    »Fertig.«
    Sie schlossen die Augen und warteten. Nichts geschah. Nach einer Weile wurde Luma ungeduldig. Ihre Nase juckte, der Sand war grobkörnig und unangenehm, und irgendein Krabbeltier –wahrscheinlich eine Fliege – ließ sich immer wieder auf ihren nackten Armen nieder. Sie war gerade zu dem Schluß gekommen, daß sie wie gewöhnlich eine totale Versagerin war, wenn es um Visionen ging, als sie plötzlich anfing, Farben zu sehen.
    Das Blau kam zuerst, es explodierte wie aus dem Nichts, ein spitz zulaufender, greller Klecks, so intensiv, daß er sie blendete. Dann verblaßte es allmählich, um von einem Grün verdrängt zu werden, das sich zu einem Viereck formte und auf einer Kante herumwirbelte wie ein Gewächshaus, das sich in einem wilden Strudel drehte. Als nächstes kam eine lange, kopflose Schlange in Rot und Gold; orangefarbene Flecken, von Türkis und Gelb eingerahmt; etwas Rundes, Dickes und Kugelförmiges, das hinter Lumas Augenlidern tanzte und von einer Farbe war, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es war reine Farbe, die alle anderen Farben auslöschte, der Ton, den Farben gehabt haben mußten, bevor es menschliche Augen gab, um sie zu sehen.
    Sie saß ganz still da und ließ die Farben kommen und auf sich einwirken. Sie konnte den Sand unter sich fühlen, angewärmt von ihrem Körper, den Druck der Hände ihrer Mutter; eine leichte Brise, die über ihre Haut streifte. Sie konnte auch noch andere Dinge fühlen, Dinge, von denen sie niemals geglaubt hatte, daß sie sie überhaupt wahrnehmen könnte. Neben ihr, in Schulterhöhe, erzitterte ein einzelnes Weidenblatt unter dem Gewicht einer Raupe; zu ihren Füßen huschten Ameisen zwischen den Sandkörnern hin und her, und ihre Füße trappelten so laut wie Pferdehufe; ein Vogel flog lautlos über ihren Kopf, und sie fühlte, wie seine Schwingen die Luft zu pulsierenden Kreisen aus Hitze und Kälte aufwirbelten.
    Dann geschah etwas Seltsames. Ganz plötzlich war sie niemand. Sie hatte keinen Namen mehr, kein Gesicht, keinen Körper. Sie saß nirgendwo und tat nichts, war so inhaltlos wie der tiefste, traumloseste Schlaf, so leer wie eine Tasse, die keinen Boden und keine Wände hatte. Dieser seltsame Zustand des Nichtexistierens hielt lange Zeit an, aber sie empfand keine Furcht, denn es gab kein »sie« mehr. Das Nichts, das einst Luma gewesen war, schwebte mehrere Ewigkeiten lang im leeren Raum, ohne auch nur zu wissen, daß es schwebte.
    Plötzlich kehrte ihr Körper zurück, stürzte auf sie herab wie ein Habicht, der über eine Maus herfällt. Er prallte gegen das Nichts, das sie war, zerbrach es, und schleuderte sie wieder in die Welt zurück. Sie schrie, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Sie öffnete die Augen und sah ihre eigene Hand vor ihrem Gesicht, winzig klein und faltig und so transparent wie das Fühlhorn einer Schnecke. Sie war an einem dunklen Ort, fast ohne jedes Licht, und schwamm auf dem
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