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Als ploetzlich alles anders war

Als ploetzlich alles anders war

Titel: Als ploetzlich alles anders war
Autoren: Martina Dierks
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unangenehme Gefühl, von allen angestarrt zu werden. Das machte sie so nervös, dass sie nicht wusste, wo sie hinschauen sollte, und schließlich die ganze Zeit auf den Boden blickte, um die Leute nicht ansehen zu müssen, die sie verstohlen oder auch mit unverhohlener Neugier betrachteten. Viel lieber hätte sie ein Taxi genommen, aber bei diesem Wetter war keines zu kriegen gewesen, sodass sie zuerst mit dem Bus zur nächsten barrierefreien S-Bahn-Station gefahren und dort gleich in den einfahrenden Zug gestiegen war. Diesmal hatte sie ganz spontan gehandelt und sich von ihrer dummen Angst nicht aufhalten lassen. Was sollte denn auch passieren? Wirklich gefährlich war es ja nicht, und wenn es unterwegs irgendein Problem gab, dann würde sie eben jemanden um Hilfe bitten müssen. Inzwischen war ihr zwar ein wenig mulmig bei dem Gedanken, so ganz allein in der Stadt unterwegs zu sein. Gerade eben hatte sie auch noch festgestellt, dass ihr Handy nicht aufgeladen war, das verunsicherte sie ein wenig, doch umkehren wollte sie deshalb trotzdem nicht. Sie betrachtete das als Experiment. Sie übte, mit neuen Gefühlen umzugehen und entsprechende Erfahrungen zu machen. Die Welt hatte sich zwar nicht verändert, aber im Rollstuhl war Louisas Blickwinkel buchstäblich ein anderer und daran musste sie sich ja auch erst gewöhnen. Je häufiger sie jetzt allein solche Ausflüge machte, desto weniger Ängste würde sie haben und desto freier würde sie sich eines Tages wieder fühlen.
    Dann würde sie garantiert auch ganz cool bleiben und nicht die Augen senken, wenn wieder mal einer so gaffen würde wie eben diese eine Frau in der S-Bahn, der richtig anzusehen war, was sie über Louisa dachte. Louisa hätte sie am liebsten gefragt, ob sie jeden so anglotzen würde oder ob sie sich das nur bei Behinderten traute. Louisa erinnerte sich kaum, wie sie selbst früher auf behinderte Menschen reagiert hatte. Gut, sie hatte die Leute auch bemitleidet, aber nie so unverschämt angestarrt.. Sie wusste, sie würde sich an Situationen wie diese gewöhnen müssen und sie wusste inzwischen auch, dass es nur zwei Möglichkeiten gab. Entweder sie erkämpfte sich ein bisschen Freiheit und Glück oder sie gab endgültig auf. Vorhin, als die Erinnerungen an den Unfall zurückgekommen waren, hatte für einen kurzen Moment auch der Gedanke ans Aufgeben etwas Verlockendes gehabt.
    Als Louisa jetzt aus dem Zugfenster in den fallenden Schnee schaute und die Lichterketten in den Fenstern blinken sah, spürte sie eine zaghafte Freude in sich aufsteigen. Dem Winter haftete immer noch ein besonderer Zauber an, vielleicht hatte sie sich bis jetzt nur gegen dieses Gefühl gewehrt.
    Als Louisa aus dem Bahnhof auf die Straße gerollt war, faltete sie die Wegbeschreibung auseinander, die sie zu Hause aus dem Stadtplan abgemalt hatte. Sie hatte ihr Ziel mit rotem Filzstift eingekreist. Es war nicht weit, aber im Rollstuhl würde es natürlich länger dauern als zu Fuß, weil es immer noch schneite. Vor den vereisten Buckeln an einigen Stellen musste Louisa fast immer kapitulieren, aber eigentlich war immer jemand in der Nähe, der ihr spontan seine Hilfe anbot und sie ein Stück schob, bis sie wieder allein weiterkonnte.
    Das Haus, das sie suchte, war ein zweistöckiges Gebäude mit einer großen Terrasse und hohen Panoramafenstern im Erdgeschoss, hinter denen Louisa Rollstühle, Krücken und Gehhilfen stehen sah. In der Einfahrt parkte ein Bus vom Behindertenfahrdienst, der auch Louisa jeden Morgen in die Schule fuhr.
    Tinka wohnte mit zwei anderen jungen Frauen im Erdgeschoss. Eine von ihnen öffnete die Tür, nachdem Louisa sich endlich getraut hatte zu klingeln. Ob Tinka es nicht doch etwas seltsam fand, wenn sie hier einfach so auftauchte? Vorhin am Telefon hatte sie sehr erstaunt geklungen, aber dann gleich beteuert, wie sehr sie sich über Louisas Besuch freuen würde, besonders deshalb, weil sie nie damit gerechnet hätte, dass Louisa sie wirklich einmal anrufen würde.
    » Hej, ich bin Perle«, sagte das Mädchen, das aussah wie eine Figur aus einem Manga-Comic. Sie war älter als Louisa, vielleicht fünfzehn oder sechzehn, hatte eine gelsteife pechschwarze Zackenfrisur, die ihr Gesicht umgab wie eine Sternenkrone, unzählige Tattoos an ihren Armen und sogar ein Piercing in der Augenbraue, sie trug schwarze flippige Klamotten und schien überhaupt kein Problem damit zu haben, dass sie humpelte, eine Beinschiene hatte und ihr Arm bei manchen Bewegungen
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