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Allmachtsdackel

Allmachtsdackel

Titel: Allmachtsdackel
Autoren: Christine Lehmann
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wenn jemand in die Sonne blinzelte.
    Ich bekreuzigte mich zeremoniell, ließ mich an der Bettkante auf die Knie nieder, rammte meine Ellbogen auf die Matratze und verschanzte mein Gesicht hinter gefalteten Händen.
    »Wann wollte Pfarrer Frischlin hier sein?«, hörte ich Richard fragen. Ohne Zweifel schaute er dabei auf seine Uhr.
    »So gegen 22 Uhr. Er kommt aus Tübingen, wo er im Stift noch irgendeine Veranstaltung hat.«
    »Also eine Viertelstunde noch«, stellte Richard fest. »Dann könnte ich noch mal schnell … äh, zum Wagen hinunter und das … Gepäck … Und den Hund ins Auto tun«, fiel ihm im letzten Moment doch noch etwas Sinnvolles ein. »Da stört er nicht.«
    Ich hörte Kleider rascheln und Cipións Krallen auf dem Parkett. »Komm, Mama«, sagte Richard. »Lisa kommt gleich nach.«
    Die Türklinke knackte. Die Chance stand fifty-fifty, dass Richard seiner Mutter jetzt erklärte, dass ich nicht sein Chauffeur, sondern irgendwas zwischen Lebensabschnittsgefährtin und Störenfried war.
     

4
     
    Warum wollte Richard keine Feuerbestattung? Etwa wegen der zweiten Leichenschau? Ich knipste das Licht an und nahm mir den Totenschein vor. Der Name des Arztes lautete Dr. Reinhold Zittel. Er hatte den Toten als ihm bekannt identifiziert, beim Todeszeitpunkt »etwa 18 Uhr« notiert und bei Punkt 5, natürlicher Tod, sein Kreuzchen gemacht. Ich drehte den grauen Umschlag fürs Standesamt in den Händen. Wie viele solcher Umschläge wurden wohl täglich von Unbefugten geöffnet, von Bestattungsunternehmen oder Friedhofsverwaltungen? In meinem Fall wäre es reine Neugierde gewesen. Ein Motiv, das ich als legitim betrachtete. Aber musste es sein?
    Ich rechnete. Halb sieben hatte Lotte ihren toten Mann gefunden, dann hatte sie mit Barbara – wer auch immer das war – telefoniert. Danach erst hatte sie den Arzt gerufen, der dann vermutlich so gegen halb acht gekommen war. Von Leichenstarre war zu diesem Zeitpunkt praktisch noch nichts zu bemerken gewesen, aber im Nackenbereich hatten sich bereits Totenflecken gebildet. Die erschienen nach etwa zwanzig Minuten, weil das Blut innerhalb des Körpers nach unten sickerte und die Unterhaut mit violetten Flecken füllte.
    Wenn die Augen des Toten offen gestanden hatten, hatte Dr. Zittel außerdem eine Hornhauttrübung bemerkt und daraus geschlossen, dass Martinus seit mindestens einer Dreiviertelstunde tot war. Eine Temperaturmessung im Anus musste ihm Ähnliches beschieden haben.
    Ich wandte mich dem Toten zu. Martinus’ Gesicht war glatt rasiert. Am Kinn hatte er wie viele Männer eine kleine Narbe. Bei Kriegsausbruch war er dreiundzwanzig gewesen, ein Alter, in dem kein Mann der Wehrmacht entkam, es sei denn, er hatte seine Unentbehrlichkeit an der Heimatfront geltend machen können, als Ingenieur und Feinmechaniker beispielsweise, der nicht nur Waagen, sondern auch Verschlussfedern oder Auszieher für Pistolen produzieren konnte.
    Ich knöpfte den Schlafanzugkragen auf. Druckstellen an Hals und Schlüsselbeinen waren nicht zu sehen. Ich ruckelte am Nasenbein. Nicht gebrochen. Kein Hinweis auf Ersticken. Auch keine roten Pünktchen um die Augen herum, also kein Hinweis auf einen Innendruck durch Erwürgen oder Erdrosseln. Braune Augen, leicht getrübt.
    Ich knöpfte den Schlafanzug wieder zu und beschaute die Hände. Ein schmaler goldener Ehering war tief in den Ringfinger der rechten Hand eingeschmolzen. Die Fingernägel hätten mal wieder geschnitten werden müssen. Sie waren zwei Millimeter lang und nicht wirklich sauber. Mit einem Nagelreiniger aus Lottes Nachttischschublade grub ich etwas Dreck aus den Nägeln und faltete ihn in den Beipackzettel einer Schachtel Paracetamol aus derselben Schublade, den ich in meine Jackeninnentasche steckte.
    Am mittleren Glied des Zeigefingers von Martinus’ rechter Hand befand sich eine kleine frisch verschorfte Scharte, höchstens einen Tag alt. Am Handgelenk gab es Kratzer wie von Dornengebüsch. Aber daraus musste man nicht mehr schließen, als dass die Webers einen Garten mit Rosen hatten.
    Ich hob Decke und Laken an und schlug sie hoch. Der Tote trug auch eine Schlafanzughose. Die Füße waren leicht geschwollen, die Haut an den Fesseln tendierte ins Gelbliche. Die Hornhaut war dick und rissig überall dort, wo Ferse, Ballen und Zehen auf die Schuhnähte und Sohlenkanten trafen. Die Kniegelenke waren schon ziemlich teigig, die Hüftgelenke vollständig steif. Ich rechnete. Die Totenstarre begann nach zwei Stunden in
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