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Allmachtsdackel

Allmachtsdackel

Titel: Allmachtsdackel
Autoren: Christine Lehmann
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nicht einmal für den eigenen Sohn ist Platz im Hause Weber. Du weißt ja, wie die Leute sind. Immer drauf aus, etwas hineinzuinterpretieren. Und die Chaiselongue im Lesezimmer ist auch sehr bequem.«
    Ein Gästezimmer besaß dieses Haus anscheinend nicht.
    »Sie holen ihn dann morgen früh um acht. Ich habe das Bestattungsunternehmen Erdinger beauftragt. Die haben seinerzeit auch Tante Erika beerdigt. Erinnerst du dich? Ach nein, da warst du ja noch in Argentinien. Er selbst ist ja nun auch tot, letztes Jahr gestorben. Die Tochter führt jetzt das Geschäft.«
    Im Gang oben stand ein Fenster offen, um dem vom Tag erhitzten Gebäude ein wenig Kühlung zuzufächeln. Doch es wehte nur das Gemuhe von Kühen herein. Die Sonne war untergegangen. Eine Deckenlampe brannte, aber noch war das Fensterviereck heller als der Gang. Ein äußerst fragiles Gleichgewicht. In der nächsten Sekunde würde unser Licht nach draußen fallen.
    »Er soll übrigens eingeäschert werden. Du weißt doch, das hat er immer gewollt. Ist ja auch viel hygienischer.«
    »Darüber reden wir noch, Mama.«
     
    Im ehelichen Schlafzimmer stand ein gewaltiges Bett aus spiegelblankem Nussbaumholz. Am Kopfende bildete die Maserung sakrale Spitzbögen, am Fußende formte sie Tulpen. Schränke, Kommode und Nachttischchen bestanden aus demselben Gemaser. Alles peinlichst aufgeräumt, wie geleckt, dauerneu. Das Fenster wies ins östliche Violettblau der heraufziehenden Nacht. Es stand offen. Fledermäuse flatterten durchs Zwielicht. Ein dreiflügeliger Spiegel auf der Schminkkommode blitzte düster.
    Automatisch rekapitulierte ich die Totenmagie meiner Mutter. Ein Fenster musste offen stehen, damit die Seele entweichen konnte. Als Fliege beispielsweise. Nur sollte sie dann nicht gleich von einer Fledermaus geschnappt werden. Alle Uhren mussten angehalten werden, was aber nicht für Armbanduhren galt. Wer hätte schon die Knopfbatterien herausgepult bekommen? Vor allem aber musste man die Spiegel verhängen. Sonst verirrte sich die Seele in der Geisterwelt der Reflexe.
    »Ich hatte Jacqueline doch gebeten, Kerzen hinzustellen!«, fuhr Lotte auf, kaum hatten wir den dämmrigen Raum betreten. Wortlos drehte sie um und hastete hinaus.
    Der Verblichene lag unter einer schweren braunen Wolldecke, deren Anblick mir den Hitzschlagschweiß unter die Achseln trieb. Wer so eine Decke aushielt, musste tot sein.
    Richard trat nicht ans Bett, sondern an die Spiegelkommode, auf der farbenfrohe kleine Umschläge lagen.
    »Was hat der Arzt denn angekreuzt? Natürlicher Tod?«, fragte ich.
    Richard nahm das obenauf liegende, einmal gefaltete blaugraue Doppelblatt und nickte.
    »Und woran ist er gestorben?«
    »Die medizinischen Einzelheiten«, antwortete der Staatsanwalt, »stehen im vertraulichen Teil der Todesbescheinigung.«
    Alle Umschläge waren zugeklebt und amtsdeutsch beschriftet: »Inliegend Todesbescheinigung – vertraulicher Teil – zum Verbleib bei der verstorbenen Person.« Drei Umschläge, drei Farben: Grau fürs Standesamt und für die Statistik, Gelb für die Obduktionsscheine und Rosa für … »Für die Feuerbestattung?«, fuhr ich auf.
    »Ja, in diesem Fall muss ein weiterer Arzt den Toten begutachten.«
    Richard legte das blaue Blatt auf die Umschläge zurück, ließ aber die Hand auf dem Stapel liegen, als fürchtete er, ich würde sonst die vertraulichen Teile aufreißen. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Denn Richard hätte sich sicher viel lieber mit in mehrfachen Durchschlägen ausgefüllten Verwaltungsformularen beschäftigt als mit seinem toten Vater, der auf dem Bett ausgestreckt lag und unter der Wolldecke nicht mehr schwitzte.
    Es war kein ausgemergelter Leib. Über der Brust, die kein Atem mehr hob und senkte, war ein Laken über die Wolldecke geschlagen. Darauf ruhten die gefalteten Hände auf einem schwarzen Holzkreuz. Sie waren prall, gelblich und fleischig und von Altersflecken gescheckt.
    Mehr musste man vom Fußende des Betts, an das Richard getreten war, nicht sehen, wenn man nicht wollte. Die Jacke eines blaubeige gestreiften Schlafanzugs war dem Toten bis unter den Kehlkopf geknöpft. Das Gesicht war quadratisch und voll. Ein dickes Kissen zwang den Kopf mit dem Kinn aufs Brustbein. Die Lippen standen geringfügig offen.
    »Nein, Lisa, nicht!«, warnte mich Richard ahnungsvoll.
    Da hatte ich schon das Kinn des Entschlafenen angetippt. Früher, wenn meine Mutter zur Leiche gerufen wurde, hatte sie immer alles stehen und liegen lassen
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