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Allmachtsdackel

Allmachtsdackel

Titel: Allmachtsdackel
Autoren: Christine Lehmann
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den Augenlidern. Nach vier Stunden war der Kiefer fest, nach sechs bis acht Stunden schließlich der ganze Körper. Warum sich die Muskulatur versteifte, war bekannt. Es ging ihr während des postmortalen Stoffwechsels das Energiemolekül ATP aus, das angespannte Muskeln wieder lockerte. Seltsam nur, dass es dem Körper am Kopf zuerst ausging und an den Füßen zuletzt. Und Martinus war noch keine vier Stunden tot. Dennoch war er steif bis zu den Knien. Vielleicht lag es an der Hitze, dass es schneller ging. Oder aber irgendetwas anderes hatte ATP bei ihm schon zu Lebzeiten reduziert. Zum Beispiel eine große körperliche Anstrengung.
    Da er bretthart war, ließ er sich gut in Seitenlage aufstellen. Dabei gluckerte der Leib ein bisschen. Ich schob das Schlafanzughemd hoch. Das Blut, das großflächig in die Rückenpartie gesunken war, färbte die Haut dunkel. Vom Schlafanzug hatten ein paar Falten und der Hosenbund helle Streifen hinterlassen. Die Aufliegesteilen der Schulterpartie und Pobacken waren hell. Alles, wie es sein musste. Die dunkle Masse ließ sich mit dem Daumen wegdrücken. Ob Martinus auf dem Rücken verstorben war oder ob Lotte oder der Arzt ihn auf den Rücken gedreht hatte, verrieten die Totenflecken nicht. Blut ist noch lange Zeit flüssig genug, um nach unten zu sinken, wo auch immer gerade unten ist bei einer Leiche.
    Ich kippte den Körper zurück in Rückenlage und arrangierte Decke und Laken wieder. Blieb noch eine letzte Prüfung, um den Todeszeitpunkt einzukreisen. Ich blies die Kerzen aus, drehte eine nach der anderen aus der Halterung und balancierte sie mit dem flüssigen Wachshäubchen am Docht hinüber zum Fenster, wo ich sie draußen aufs steinerne Fensterbrett legte.
    In der dörflichen Stille bullerte ein Motorrad. Die Kühe aber mussten inzwischen woandershin gezogen sein. Ihr Muhen kam aus weiter Ferne.
    Ich fasste den Kandelaber am Stamm und schlug mit gemäßigter Kraft den Fuß des Leuchters auf den Bizeps des Seeligen. Die Hand an diesem Arm zuckte nicht mehr, aber der Wulst der postmortalen Muskelkontraktion ließ sich unter dem Stoff des Ärmels noch ertasten. Folglich war Martinus Weber unter sechs Stunden tot. Frühester Todeszeitpunkt 16 Uhr.
    Ich stellte den dreiarmigen Leuchter zurück auf den Nachttisch, holte die Kerzen vom Fensterbrett, steckte sie wieder in die Halterungen, zündete sie erneut an und strich Decken und Laken glatt.
    Martinus hatte es sich und seinen Nächsten leicht gemacht. Kein Krankenhaus und Siechtum an Schläuchen auf der Intensivstation, kein Koma an der Herz-Lungen-Maschine, kein Elend im Pflegeheim in geistiger Umnachtung und Windeln, begleitet vom schuldgefühlreichen Warten der Angehörigen auf Erlösung und das Erbe. Das alles hatte er sich und uns erspart.
    Eine Türglocke gongte durchs Haus.
    Ich ging ums Bett herum und zog die wandseitige Nachttischschublade auf. Darin eine Lesebrille, Fettcreme, fünf gespitzte Bleistifte, eine Lutherbibel, ein Büchlein mit Sudoku-Quadraten, die zum Teil ausgefüllt waren, und ein rotes Buch, auf dem Die Losungen stand. Es schlug von selbst den heutigen Tag auf.
    »Ich habe mein Herz vor dem Herrn ausgeschüttet. 1. Samuel 1,15«, las ich. Darunter stand: »Jesus sprach zu Bartimäus:
    Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege. Markus 10,52.«
    Na, wenn das kein guter Tag zum Sterben war!
    Im Haus setzte ein dumpfes Knarren ein, das ich der Treppe zuordnete. Ich löschte das elektrische Licht.
     

5
     
    Die mähnenhaarige Jacky, alias Jacqueline, geleitete eine gebeugte alte Frau mit Stock und schiefem Sommerrock herein, die ächzend auf dem Stuhl an der Schminkkommode Platz nahm. Zwei weitere Mädchen, beide mit rotblonden Mähnen und dunklen Knopfaugen wie Jacky, traten zur Tür herein und verdrückten sich in eine Ecke, die eine höchstens fünfzehn in Jeans, die so tief saßen, dass man die Beckenknochen und fast auch das Schamhaar sah, die andere Anfang zwanzig, breithüftig und mit dem Lebenstrotz dörflicher Frustrationen im Gesicht. Jacky stellte sich zu ihnen und faltete die Hände.
    In schneller Folge huschten ein Dutzend Leute in das von den drei Kerzen mehr verdunkelte als erhellte Zimmer. Sie kamen auf Zehenspitzen, sie falteten die Hände, sie hatten graue Topfhaarschnitte, blasse Gesichter trotz des langen Sommers, trugen Brillen, die aus der Mode waren, und brachten den Brodem nach Schweiß eines geschaffigen Tages mit. Auch
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