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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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Blick aus dem Fenster natürlich stark getrübt durch die verkohlten Überreste des ausgebrannten Hotels und den rußgeschwärzten Schnee; aber ich war ohnehin viel zu durcheinander, um irgendeinen Ausblick zu würdigen – ob nun schön oder nicht.
    Man spürte sofort, daß auch die Aufmerksamkeit der Studenten nicht dem Unterricht galt. Die Gespräche drehten sich einzig um den Brand, und ich erwarb mir im Lauf der Diskussion ein gewisses Ansehen, weil ich das Unglück miterlebt hatte; wie alle guten Geschichtenerzähler schmückte ich manches vielleicht ein wenig aus, um die Geschichte spannender zu machen. Ich beschrieb den Einbruch der Feuerwalze und das nachfolgende Chaos.
    »Viele Menschen brauchten Hilfe«, sagte ich, in untypisch nonchalanter Pose auf der Kante meines Pults hockend. Ich entfernte einen Fussel von meiner Hose.
    »Gab es Verletzungen, Sir?«
    Die Frage kam von Edward Ferald, einem jungen Mann mit hängenden Kinnbacken und eng beieinanderstehenden Augen, der ständig versuchte, sich lieb Kind zu machen, mich jedoch, wie ich wohl wußte, hinter meinem Rücken genau wie einige andere Studenten Mopsus nannte. Warum, weiß ich nicht. Ich war zwar keine Schönheit, aber mit einem Mops hatte ich wahrlich keine Ähnlichkeit. Nun ja, fast alle Dozenten hatten wenig schmeichelhafte Spitznamen: John Runciel hieß Ranzig; Benjamin Little, soweit ich mich erinnere, Kleinlich; und Jonathan Whitley Witzlos. (Ranzig ist auf jeden Fall schlimmer als Mopsus, finde ich.)
    Ferald lag nichts am Lernen, er machte sich vielmehr ein Vergnügen daraus, seine Lehrer zu einem ungefällig humorlosen Ernst zu provozieren, den er höflich nicht zu begreifen vorgab. Eine private Unterrichtsstunde mit Ferald konnte infolgedessen eine Qual sein. Bei den wenigen Versuchen, ihm Paroli zu bieten, war ich elend gescheitert, da Schlagfertigkeit leider nicht zu meinen starken Seiten gehört.
    »Viele Schnittwunden, Quetschungen und Knochenbrüche«, antwortete ich. »Und Rauchvergiftungen. Zwanzig Menschen sind ums Leben gekommen.«
    »Und Sie selbst, Sir?« erkundigte sich Ferald mit salbungsvoller Anteilnahme. »Ich hoffe, Sie sind unverletzt geblieben.«
    »O ja, mir ist zum Glück nichts passiert.«
    »Zum Glück«, sagte Ferald mit einem impertinenten Lächeln.
    »Zwanzig Menschen sind verbrannt, Sir?« fragte Nathan Foote, ein blondhaariger junger Mann, mit einem Ausdruck echten Entsetzens im Gesicht, obwohl ihm das nicht neu sein konnte. Seit dem vergangenen Abend war im College von nichts anderem als dem Brand die Rede gewesen.
    »Man kann nur hoffen …«, begann ich. Aber in diesem Augenblick bewegte sich die Zeit plötzlich langsamer und kam zum Stillstand. Durch das Fenster sah ich eine Frau mit einem Kind, und das Bild war so lebendig und ergreifend, daß ich fürchtete, Wahnvorstellungen zu haben. Ich griff mir mit der Hand an die Stirn, die heiß und feucht war trotz der Kälte im Seminarraum.
    »Sir?« fragte Foote, erschrocken nicht nur über die plötzlich abgebrochene Rede, sondern auch über mein Aussehen.
    Ich zwang meinen Blick, zu seinem Gesicht zurückzukehren.
    »Man kann nur hoffen, daß die unglücklichen Opfer durch das Einatmen des Rauchs umgekommen sind, nicht durch die Flammen«, sagte ich, bemüht, mich wieder in die Gewalt zu bekommen.
    Es folgte ein langes Schweigen.
    »Mir ist eben klargeworden«, sagte ich hastig, »daß es völlig unangemessen wäre, an einem Tag zu unterrichten, an dem wir der unglücklichen Menschen gedenken sollten, die ihr Leben verloren haben und für die unser College heute morgen auf Halbmast geflaggt hat. Ich werde deshalb den Unterricht ausfallen lassen. Sie können sich in Ihre Zimmer oder in die Kapelle zurückziehen, um dort über die Flüchtigkeit des Lebens, die Willkür des Schicksals und die Notwendigkeit nachzudenken, stets im Zustand der Gnade zu leben.«
    Die Lebhaften unter meinen Studenten, Ferald zum Beispiel, sahen gleich die unerwartete Gelegenheit zu einer Stunde Nichtstun und waren sofort auf den Beinen, während die anderen noch einen Moment verblüfft sitzen blieben, ehe auch sie Hefte und Unterlagen zusammenpackten; in welchem Tempo der Seminarraum sich leerte, weiß ich nicht, denn bevor der letzte Student gegangen war, befand ich mich schon auf dem Weg zur Wheelock Street.
    (Mir kommt jetzt der Gedanke, ob nicht mein Spitzname sich weniger auf mein Aussehen bezog als auf meine Art. Hatte der Erfinder des Namens damit vielleicht sagen wollen, daß
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