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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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Lehrbeauftragten für Englische Literatur und Rhetorik am Thrupp College angeboten, einer Hochschule etwa fünfzig Kilometer südöstlich meiner Alma mater. Ich sagte mit dem Gedanken zu, daß ich an einer kleineren und weniger bekannten Hochschule wahrscheinlich bessere Aufstiegschancen hätte und es bald zum ordentlichen Professor bringen würde, eines Tages vielleicht sogar zum Fakultätsdekan, während mir diese Positionen bei einem Verbleib in Dartmouth möglicherweise verwehrt bleiben würden. Einen Posten außerhalb Neuenglands anzunehmen kam mir nicht in den Sinn, obwohl es entsprechende Gelegenheiten gab; ich hatte mir die Sitten und Gepflogenheiten Neuenglands so gründlich angeeignet, daß ich mich längst nicht mehr als New Yorker betrachtete. Ich war von Anfang an bestrebt, mich als alteingesessener Bürger Neuenglands darzustellen, wobei ich mich, wie ich nur ungern gestehe, während meiner ersten Monate in Dartmouth sogar zu einer Fälschung meiner Biographie hinreißen ließ, die aufrechtzuerhalten allerdings höchste Schwierigkeiten bereitete. Ich gab auf, noch ehe ich mein erstes Jahr absolviert hatte. (In Dartmouth strich ich das zweite »a« aus meinem Vornamen Nicholaas.)
    Mein Vater hatte es bei meiner Rückkehr aus Europa zu bescheidenem Wohlstand gebracht, und ich hätte mir durchaus ein eigenes Haus in Thrupp leisten können, aber ich zog es vor, in die zum College gehörige Woram Hall zu ziehen, einen klassizistischen Bau, der allgemein Worms genannt wurde. Mir lag nichts daran, ganz isoliert zu leben, und ich glaubte irrigerweise, daß ich, wenn ich näher bei den Studenten lebte, sie besser verstehen und entsprechend ein besserer Lehrer werden würde. In Wirklichkeit war es wohl eher umgekehrt: Nähe erzeugte, wie ich feststellen mußte, meist eine schlecht verhohlene Feindseligkeit, die mich manches Mal verblüffte.
    Meine Räume in der Woram Hall umfaßten eine Bibliothek, ein Schlafzimmer und einen Salon, in dem ich Gäste empfing und private Unterrichtsstunden abhielt. Wie in Neuengland seit zweihundert Jahren strenger kalvinistischer Lebensführung Brauch, richtete ich diese Räume mit soliden, schmucklosen Möbelstücken ein – fünf Stühle mit geradem Rücken, ein Himmelbett, eine Frisierkommode, eine Truhe aus Zedernholz, dazu ein hoher Hocker und ein Schreibpult, in dem ich meine Papiere aufbewahrte – und verzichtete auf die überladene Pracht, die zu jener Zeit andernorts so sehr in Mode und allenthalben zu besichtigen war. (Ich muß dabei an Moxons Wohnung denken: Man konnte sich kaum drehen vor Sofas und Sitzkissen, englischen Sekretären, Samtportieren, verschnörkelten Marmoruhren, Kamingittern und Mahagonitischchen.) Und wie die Form den Inhalt bestimmen kann, so paßte ich meine täglichen Gewohnheiten meiner spartanischen Umgebung an, stand morgens sehr zeitig auf, machte mir Bewegung, kam pünktlich zum Unterricht, griff, wo nötig, mit fester Hand durch und verlangte viel von meinen Studenten. Die Vorstellung, daß meine Studenten und Kollegen mich streng fanden, freut mich zwar nicht, aber ich bin sicher, allgemein so gesehen worden zu sein. Und mit der Versöhnlichkeit, die sich mit der Nachdenklichkeit der späteren Jahre einstellt, denke ich heute, daß ich häufig allzu verbissen bestrebt war, mich, wenn ich schon nicht der leibliche Sproß meiner selbstgewählten Vorväter war, wenigstens als ihr geistiger Sohn zu zeigen, obwohl mein New Yorker Erbe, ein Hang zur Zügellosigkeit, wie sie sich in der exzessiven Zeugungsfreudigkeit meines Vaters äußerte, mich gelegentlich von diesem schmalen Pfad der Askese wegführte, allerdings selten in der Öffentlichkeit und niemals in Thrupp. Wollte ich meinem abseitigen Vergnügen nachgehen, so reiste ich, wie viele meiner unverheirateten und nicht wenige meiner verheirateten Kollegen, hinunter nach Springfield, Massachusetts. Ich erinnere mich gut an diese heimlichen Wochenenden, wenn man in White River Junction mit der Hoffnung in den Zug stieg, auf der Hin- oder Rückfahrt im Speisewagen keinem Kollegen zu begegnen, aber immer schon für den Ernstfall eine Erklärung parat hatte. Mit der Zeit war ich auf Grund solcher Begegnungen, es waren vielleicht fünf oder sieben oder zehn, gezwungen, eine »Schwester« in Springfield zu erfinden, die ich zweimal im Monat besuchte. In Wirklichkeit lebte besagte Schwester in Virginia, bevor sie nach Florida zog, und sie schrieb mir hin und wieder Briefe, die ich wegen ihrer
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