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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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meine Antwort ist immer die gleiche: Ich weiß, daß es überhaupt keine Rolle gespielt hätte, an welchem Ort oder Tag ich der Frau zum erstenmal begegnet wäre – meine Reaktion wäre genauso spontan und genauso erschreckend gewesen.
    (In einer weiteren Nebenbemerkung möchte ich an dieser Stelle hinzufügen, daß ich in meinen vierundsechzig Lebensjahren beobachtet habe, daß Leidenschaft die Persönlichkeit gleichermaßen zerrüttet und bereichert, und dies nicht langsam und allmählich, sondern augenblicklich und auf eine Weise, daß das, was bleibt, nicht ausgewogen ist, sondern in beiden Richtungen völlig aus dem Lot gerät: Die Zerrüttung resultiert aus der Bereitschaft, alles zu tun, um das Objekt der Begierde für sich zu gewinnen, selbst wenn das heißt, sich zu Lug und Trug herzugeben und das herabwürdigen zu lassen, was einem einmal teuer war; die Bereicherung resultiert aus der Erkenntnis, daß man fähig ist, mit großem Herzen zu lieben, eine Einsicht, die einem trotz aller blutigen Kämpfe paradoxerweise ein Gefühl von Dankbarkeit und Stolz beschert. Aber damals hatte ich von alledem natürlich keine Ahnung.)
    Nachdem ich mich recht ungeduldig und zerstreut um einen älteren Mann gekümmert hatte, der verzweifelt seine Frau suchte und sich mit feuchten Augen an meinen Arm geklammert hatte, wandte ich mich wieder der Stelle zu, wo die Frau mit dem Kind gestanden hatte, und bemerkte, daß sie fort war. Mit einem Gefühl der Panik, das ich nur als völlig uncharakteristisch und möglicherweise wahnsinnig beschreiben kann – zum Glück fiel ein solcher Zustand heftiger Gemütserregung in dieser Menge gar nicht auf –, suchte ich sie auf dem ganzen Karree wie ein Vater sein verlorenes Kind. Viele Menschen begaben sich bereits auf den Weg nach Hause oder zu wartenden Wagen, was keineswegs zur Beruhigung meiner ängstlichen Erregung beitrug, während andere mit Decken und Mänteln, Wasser und Kakao und sogar geistigen Getränken für die Opfer des Brands aus den umliegenden Häusern kamen. Manche der Leute, die im Speisesaal gesessen hatten, waren jetzt in Mäntel und Jacken gehüllt, die ihnen entweder zu groß oder zu klein waren; sie sahen aus wie Flüchtlinge, die sich in den Hof des College gerettet hatten.
    Inzwischen war endlich die Feuerwehr eingetroffen, und die Männer richteten die Schläuche auf das Hotel. Meines Wissens retteten sie an diesem Abend nicht ein einziges Menschenleben, auch wenn sie das verkohlte Gebäude in Wasser ertränkten, das vor Morgengrauen zu Eis gefror.
    Ich wischte mir Wangen und Stirn mit meinem Taschentuch. Soweit ich mich erinnere, war mir überhaupt nicht kalt. Meine Gedanken wirbelten wild durcheinander, während ich in der sich lichtenden Menge umherlief. Wie war es möglich, daß diese Frau mir in der ganzen Zeit, die ich am Thrupp College lehrte, nie aufgefallen war? Der Ort war nicht groß genug, um seinen Einwohnern Anonymität zu erlauben. Und warum hatte sie im Hotel zu Abend gegessen? Hatte sie hinter mir gesessen, während ich einsam und allein meine gedünstete Seezunge verspeiste? War das Kind bei ihr gewesen?
    So machte ich eine ganze Weile weiter, bis meine Schritte langsamer wurden. Es war nicht etwa so, daß das Verlangen nachgelassen hatte, ich wurde einfach von Erschöpfung überwältigt. Mir wurde plötzlich bewußt, daß ich einen ungeheuren Schock erlitten hatte: Die Knie wurden mir weich, und meine Hände begannen zu zittern. Jetzt endlich wurde ich auch der Kälte gewahr: Es kann an diesem Abend nicht mehr als vier Grad gehabt haben. Ich beschloß, Zuflucht in der Wärme zu suchen, und durchquerte vielleicht zum fünftenmal den Hof, als ich den Schrei eines Kindes hörte. Sofort drehte ich mich nach dem Geräusch um und sah zwei Frauen in der Dunkelheit stehen. Die größere war halb verborgen unter einer Decke, die um ihre Schultern lag und auch das Kind umhüllte. An ihrem Arm hing eine ältere Frau, der nicht wohl zu sein schien. Sie hustete stark.
    Als ich mich der kleinen Gruppe näherte, bemerkte ich, daß die Ruhe, die mich an der Frau mit den goldbraunen Augen so sehr fasziniert hatte, jetzt Besorgnis gewichen war.
    »Madam«, sagte ich, geschwind näher tretend (so geschwind wie das Feuer?), »brauchen Sie Hilfe?«
    Ob Etna Bliss mich in diesem Augenblick überhaupt wahrnahm oder vielleicht erst am folgenden Tag, kann ich nicht sagen; sie war in verständlicher Erregung.
    »Ich muß meine Tante und die Tochter meiner Cousine
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