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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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man sich bei mir im Unterricht mopste, ich also ein Langweiler sei?)
    Die Eisruine des Hotels hatte in der hellen Vormittagssonne zu schmelzen begonnen. Es tropfte von tausend Eiszapfen, als ich daran vorüberkam, ein unaufhörlich fallender glitzernder Regen mit einem Klang wie von zartem Kristall. Ich sah zwei kleine Jungen, Schulschwänzer offensichtlich, in den Trümmern herumstochern, vielleicht auf der Suche nach irgendwelchen Schätzen, die das Feuer überstanden hatten, und befahl ihnen barsch, auf der Stelle zu verschwinden. Jeder Dummkopf konnte sehen, daß das Gebäude jeden Moment einzustürzen drohte (wie es drei Wochen später nach einem besonders dichten und nassen Schneefall tatsächlich geschah).
    Der Drang, die Frau wiederzusehen, die mein ganzes Denken gefangengenommen hatte, war so stark, daß es mich Mühe kostete, in normalem Tempo zu gehen, um nicht unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wollte so schnell wie möglich zu dem wachsgelben Kolonialhaus der Familie Bliss, weil ich fürchtete (unbegründet, wie sich zeigte), Etna Bliss habe es bereits wieder verlassen, um zurückzukehren, woher auch immer sie gekommen war. Ich glaubte nicht, daß sie bei Professor Bliss lebte. Sonst hätte ich, sagte ich mir, zweifellos von ihr gehört oder wäre ihr, was wahrscheinlicher war, bei irgendeiner Veranstaltung des College begegnet. In Thrupp gab es ungefähr fünfzig Dozenten, die meisten von ihnen führten ein Leben wie auf dem Präsentierteller, ständig der aufmerksamen Beobachtung von Studenten und Kollegen ausgesetzt. Manchmal war es, als wüßte man alles, was es an diesem College und in diesem Städtchen über den anderen zu wissen gab, aber das stimmte natürlich nicht; Geheimnisse wurden hier so sorgsam gehütet wie der wertvollste Besitz.
    Mein Schritt wurde schleppend, als ich mich dem Haus näherte, das jetzt, im Dezember, ohne das Blätterdach der umgebenden Ulmen nackt dastand. Der spontane Entschluß, der Familie Bliss meine Aufwartung zu machen, entsprach so gar nicht meinen Gewohnheiten, ich fühlte mich daher unangenehm nervös und unsicher. Doch eine unwiderstehliche Kraft, die ich mir nicht leicht erklären konnte, trieb mich zur Haustür. Ich hob den Klopfer und ließ dem Schicksal seinen Lauf.
    Es dauerte eine Weile, bis mein Klopfen Antwort fand, und als die Tür geöffnet wurde, stand Etna Bliss selbst vor mir.
    Hätte ich in den Stunden, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, daran gezweifelt, daß eine Frau mich wirklich so behexen konnte, so lösten diese Zweifel sich bei ihrem Anblick in Luft auf. Obwohl sie sich rasch bewegt haben mußte, um zur Tür zu kommen und zu öffnen, strahlte sie auch jetzt wieder eine so tiefe Ruhe aus, daß man sich besinnungslos zu ihr hingezogen fühlte, ähnlich wie mancher beim Überqueren eines Berggrats gelegentlich die gefährliche Versuchung verspürt, sich in den Abgrund zu stürzen. Sie trug ein in Schwarz und Bronze gestreiftes Kleid mit bronzefarbener Spitze an Kragen und Manschetten, das so geschnitten war, daß es ihren Busen wie auf einem Untersatz darbot, ein Anblick, der mir den Atem raubte. Ihr Gesicht leuchtete im vom Schnee reflektierten Sonnenlicht, ihr Haar war frisch gewaschen und in gedrehten Zöpfen hochgesteckt, die es einen (mich) zu lösen verlangte. Ich war in diesem Augenblick, von Angesicht zu Angesicht mit ihr, selbst nahe daran, mich aufzulösen.
    »Miss Bliss«, sagte ich und nahm meinen Hut ab.
    »Professor Van Tassel«, erwiderte sie, mich ansehend, jedoch ohne die erwarteten Höflichkeitsfloskeln hinzuzufügen.
    Schon da hatte ich das Gefühl – ja, was für ein Gefühl eigentlich? –, daß sie meinen zerbrechlichen Panzer mit ihrem Blick durchdringen konnte? Daß sie bereits alles wußte, was es von mir zu wissen gab? Daß sie wußte, warum ich gekommen war und was ich tun würde, noch ehe ich selbst es wußte? Doch es war nur ein flüchtiger Eindruck, den ich schon im nächsten Moment verwarf.
    »Verzeihen Sie die Störung«, sagte ich, »aber ich kam gerade vorbei, und da wollte ich mich doch erkundigen, wie es Ihrer Tante geht. Hat sie sich von dem Schrecken erholt? Ich hoffe, ich störe nicht, aber erst heute morgen dachte ich, was für ein Schock das Ganze war und wie sehr es sie angegriffen haben muß.« Ich hielt kurz inne. »Und Sie natürlich auch.«
    »Danke, daß Sie fragen«, antwortete sie. »Der Arzt hat sich um meine Tante gekümmert«, fügte sie hinzu, und merkwürdigerweise bat nicht
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