Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
sie mich ins Haus, wie es der Anstand erfordert hätte, sondern Bliss, der mit den Halbgläsern auf der Nasenspitze ins Vestibül trat und sagte: »Ah, die Stimme kam mir doch gleich bekannt vor. Kommen Sie herein, Van Tassel, kommen Sie herein, damit ich Ihnen in angemessener Weise dafür danken kann, daß Sie meine Frau, meine Enkelin und meine Nichte gestern abend sicher nach Hause gebracht haben. Für meine Frau war es ein schlimmer Schreck. Und für Sie sicher auch.«
    »Nein, nein«, entgegnete ich, »aber für manche andere natürlich, und mit gutem Grund.«
    Ich trat ins Haus.
    »Bleiben Sie und trinken Sie etwas Warmes mit uns.« Bliss nahm seine Brille ab und faltete die Zeitung, die er in der Hand hielt. »Ja, ich hätte gern einen Bericht über die Ereignisse gestern abend, wenn ich Ihnen das zumuten darf.«
    »Aber natürlich«, versicherte ich.
    Kann es sein, daß Etna Bliss einen Augenblick zögerte, ehe sie mir Hut und Mantel abnahm? Ja, ich bin sicher. Ich erinnere mich deutlich, was für ein Gefühl das war, als ich mit meinen Sachen in der ausgestreckten Hand dastand und sich einen Moment lang kein Abnehmer fand. Was gewahrte sie an mir, das sie zu zögern veranlaßte? Das unersättliche Begehren, das mich bis ins Mark erschüttert hatte? Erkannte sie es, weil sie es früher schon in den Zügen anderer Männer wahrgenommen hatte, oder wußte sie einfach intuitiv um menschliche Wünsche und Begierden?
    (Und warum, warum , habe ich mich oft gefragt, mußte es ausgerechnet diese Frau sein und nicht eine andere? Warum die Rundung gerade dieser Wange und nicht einer anderen? Warum das Goldbraun dieses Augenpaars und nicht das Blau eines anderen? Ich habe in meinem Leben hundert, nein, tausend schöne Frauen gesehen – wenn sie mit gerafften Röcken über Schneehaufen hinwegstiegen; im Restaurant den schlanken Hals befächelten; sich beim trüben Schein elektrischer Lampen in gemieteten Zimmern entkleideten –, aber keine hat je eine solche Wirkung auf mich ausgeübt wie Etna Bliss: ein Empfinden, das jeder wissenschaftlichen Erklärung spottet.)
    Sie nahm mir endlich den Mantel ab, und nachdem sie ihn an einem Garderobenständer in der Ecke aufgehängt hatte, wandte sie sich mir halb zu.
    »Etna, würdest du wohl …«, begann William Bliss durchaus freundlich, aber vielleicht in der Absicht, durchblicken zu lassen, welchen Platz Etna im Haus einnahm. Er brauchte nicht mehr zu sagen, sie war schon auf dem Weg zur Küche, um der Köchin mitzuteilen, daß Tee gewünscht wurde.
    Welch eine Erleichterung für mich, sie davongehen zu sehen! Ein Aufschub war mir gewährt, der mir erlaubte, mich zu sammeln und mit Bliss so zu sprechen, wie wir beide es gewohnt waren, wie zwei Männer also, die einander nicht gut kennen, aber Kollegen sind und daher ein gemeinsames Vokabular besitzen, das zu respektieren ist, noch bevor sich Abneigung oder Sympathie bilden kann.
    Am College begegnete ich William Bliss selten. Er war verheiratet und lebte nicht auf dem Gelände; und da wir unterschiedlichen Fachrichtungen angehörten, hatten wir auch keine Gelegenheit, zusammen zu arbeiten. Außerdem war Bliss gut zwanzig Jahre älter als ich, gehörte also in meinen Augen einer anderen Generation an.
    Er führte mich in den Salon und bot mir einen Platz ihm gegenüber an.
    Ich kann das klaustrophobische Gefühl, das der Aufenthalt in diesem Salon bei mir hervorrief, nicht drastisch genug beschreiben – ein Gefühl, als hätte man monatelang keinen Fuß vor die Tür gesetzt, als würde der Luft von der Überfülle der Bibelots und der zahllosen Objekte, von denen jedes Aufmerksamkeit forderte, der Sauerstoff entzogen, so daß man sich nicht nur atemlos und eingeengt fühlte, sondern so, als zöge eine Migräne auf. Dieser Raum mit den gedrechselten Rosenholzschnecken und den in Eiche geschnitzten Dreiblättern, mit den goldgerahmten Spiegeln und den Marmortischen, dem verschlungenen Gerank wuchernder Pflanzen und den gußeisernen Laternen, mit den Stoffen in Streifen und Blumenmustern, den beflockten Tapeten und Vorhängen aus Glasseide, den Orientteppichen, chinesischen Vasen und gefransten Tischdecken und der eisernen Uhr – ganz zu schweigen von Dutzenden von Daguerreotypien in Rahmen aus Silber und Holz, mit und ohne Einlegearbeiten, die auf sämtlichen verfügbaren Flächen herumstanden – sog einem alle Vitalität aus dem Körper. (Zumindest wenn man ein Mann war; es war sofort klar, daß der Raum den Geschmack
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher