Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alles was du wuenschst - Erzaehlungen

Titel: Alles was du wuenschst - Erzaehlungen
Autoren: Anne Enright
Vom Netzwerk:
wir nun, in einem leeren Wohnblock mitten auf dem verlassenen Campus, und während die übrige westliche Welt Lichterketten aufhängte oder Geschenke einpackte, rieben wir uns die Augäpfel. Dann schauten wir aus dem Fenster.
    Irgendwie hat es sogar gewirkt, glaube ich.
    Sie klopfte nie bei mir an, dennoch blieb ich die ganze Nacht wach und schlief bis in den Nachmittag hinein. Ich fühlte mich sicherer so. Als ich am ersten Weihnachtstag aus meinem Zimmer wankte, saß sie am Wohnzimmertisch
und lernte. Sie sprang auf, überreichte mir ein winziges Päckchen und sagte, indem sie schüchtern den Kopf einzog und zur Seite drehte: »Frohe Weihnachten, Alison.« Das Päckchen enthielt einen auf eine Plastikkarte gedruckten kleinen Kalender. Darauf waren zwei süße Babys abgebildet. Sie hielten eine Schleife, auf der das Jahr geschrieben stand. Ich sagte: »Oh, danke schön, Li. Danke.« Sie wirkte schrecklich erfreut.
    Später am Nachmittag stahl ich von einem Blumenbeet des College ein paar späte Winterrosen und stellte sie auf den Tisch, zusammen mit einem verkokelten Hähnchen und aufgewärmtem Mais aus der Dose. Mein Leben war zu kurz, um Kartoffeln zu kochen. Mein Leben würde immer zu kurz sein, um Kartoffeln zu kochen. Das sagte ich Li, die wie von einer Schlange gebannt auf ihren Teller starrte. Isst man das hier? Wie schmeckt Truthahn? Ist es ein Opfertier? Schon das bloße Zuhören machte mich fertig. Ich versuchte, sie dazu zu bewegen, etwas Wein zu trinken, bis sie sich schließlich ein Glas genehmigte. Sofort fing sie an zu kichern. Ich trank drauflos und erging mich in Tiraden gegen die Werbung. Die schien sie ebenso zu interessieren wie die Atomkraft. Sie befragte mich zum irischen »Katholizismus« (ihre Aussprache war seltsam unsicher, offenbar hatte sie das Wort noch nie laut gesagt), und ich legte meinen Kopf auf den Tisch und sagte: »Oh, Li, oh, Li, oh, Li.« Das schienen wir beide recht lustig zu finden.
    Ich bin vermutlich nicht sehr trinkfest. Ich hatte erst drei- oder viermal in meinem Leben Alkohol getrunken und fühlte mich ziemlich beduselt. Ehe ich mich versah,
geriet ich wegen dieser Homosexualitätsgeschichte mit ihr aneinander. Sie wisse doch Bescheid – sie müsse einfach Bescheid wissen -, also warum habe sie gefragt? Sie sagte, nein, nein, in China gebe es so etwas nicht, sie hätten nicht einmal ein Wort für homosexuell. Es muss aber doch ein Wort dafür geben, antwortete ich, das hat nichts mit Kultur zu tun, das ist eine ganz natürliche Sache, aber sie lachte, als sei sie die Ausgefuchste und ich die Naive. Nein, sagte sie. Wirklich. Vielleicht gab’s mal ein Wort dafür, jetzt jedenfalls nicht mehr.
    Im Flur läutete das Telefon – meine Familie wollte mir frohe Weihnachten wünschen. Also machte ich ganz auf »Ja, dir auch. Ja, dir auch«, während mir in atemberaubendem Tempo Brüder, Schwestern und Tanten durchgereicht wurden. Als ich zurückkam, hatte Li schon das Geschirr gespült. Sie kam ins Wohnzimmer und baute sich vor mir auf.
    »Danke für eine schöne ›Weihnacht‹, Alison«, sagte sie ein wenig geschraubt. Dann ging sie an mir vorbei auf ihr Zimmer.
     
    Es waren Tage des süßen Nichtstuns. Ich schaffte es, sämtliche Tageslichtstunden durchzuschlafen; die Nächte verbrachte ich mit Lesen oder indem ich draußen das Wetter im Licht der Straßenlaterne betrachtete: leichter Schneefall, Nieselregen oder einfach nur die Nacht selbst in einem langen, gelben Lichtkegel. Dieses Scheibchen Wetter brachte mich auf den Gedanken, dass die Luft wirklich viel zu tun hat und dass es schrecklich viel davon gibt und dass es gut war, drinnen
zu sein, klein und gerade noch, eben noch so am Leben. Ich kam mir wie gehäutet vor – entblößt und wahrhaftig. Es war so friedlich, dass ich beim kleinsten Geräusch hochfuhr: eine in der Küche zusammenfallende Plastiktüte, mein eigener Atem.
    Sie waren wie ein Zauberbann, diese endlosen Nächte und Tage des Sitzens, des Auf-und-ab-Gehens und Atmens. Um vier Uhr morgens starrte ich auf die Straßenlaterne, dann war mir wegen der melancholischen Schönheit des Lichts, wegen der Luft, die darunter hinwegwirbelte, oder wegen der Millionen von Straßenlaternen und der Millionen von Fenstern und all der Regentropfen zum Heulen zumute. Auch Li hielt sich irgendwo im Haus auf und schlief in ihrem Nylonpyjama ihren chinesischen Schlaf: kein richtiger Buddha zwar, aber doch mein kleiner Plastiktalisman.
    Wir trafen uns beim Frühstück, das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher