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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman
Autoren: Jo Lendle
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»Nein«, antwortete sie, »es ist eine Sage.« Dann half sie Kurt, auf ihren Schoß zu klettern.

Verschwisterte und vergesellschaftete Halos
    Im Spätsommer 1887 wurde Alfred eingeschult. In seinem Ranzen fand er eine Bibel, ein neues Oktavheft, eine Brezel, eine Zuckertüte und einen Kompass. Die Geschwister begleiteten ihn zur ersten Stunde. Als er in das Klassenzimmer ging, standen sie draußen im Flur und winkten. Obwohl sich Alfred seit Langem darauf gefreut hatte, ein Schüler zu werden, beschlich ihn eine seltsame Leere.
    Die Geschwister hatten ihm düstere Andeutungen gemacht, die, bevor sie zu einem Ende fanden, im allgemeinen Kichern untergingen. Alfred hatte nichts dagegen, etwas zu lernen, aber er fürchtete das dicht gedrängte Sitzen neben den anderen.
    Das Klassenzimmer war bereits voll besetzt, auf dem Herweg hatte es noch so viel zu besprechen gegeben. Am Rand der ersten Bank fand sich ein Platz für ihn. Als Alfred seinen Ranzen ans Pult hängte, stieß er gegen einen Kartenständer. Der große Plan kam ins Schaukeln, fiel aber nicht herunter. Alfred entzifferte die Beschriftung: DIE ERDE. Hier war er richtig.
    Von jedem seiner Geschwister hatte er sich im Verlauf der letzten Monate einen Buchstaben zeigen lassen, das reichte fürs Alphabet. Der Raum war groß, aber nicht groß genug für all die Kinder. Vorne die Tafel, daneben
waren Haken in der Wand befestigt, an denen Zirkel, Lineal und eine Geige hingen. Davor stand das Lehrerpult mit dem Globus. Die Luft im Klassenzimmer war schon am Morgen schlecht.
    Uneingeschränkt freute sich Alfred vor allem auf den Kaiserwecken, den jedes Schulkind an Kaisers Geburtstag ausgeteilt bekommen würde. Seit Jahren hatte er zusehen müssen, wie seine Geschwister an einem Tag im März mit ihrem Hefestück nach Hause kamen, von dem höchstens am Rand etwas abgebissen war. Den Rest des Tages hatten sie ein Theater darum gemacht, als hätte man ihnen Nektar und Ambrosia geschenkt. Sobald Alfred in ihre Nähe kam, rochen sie daran und seufzten, um dann in winzigen Portionen davon zu naschen. Keiner war auch nur auf die Idee gekommen, mit ihm zu teilen.

    Sie hatten nun schon den dritten Kaiser in diesem Jahr. Anfang März war Wilhelm Friedrich gestorben, wenige Tage bevor sie seinen Geburtstag feiern konnten. Sein Sohn Friedrich Wilhelm war bei der Krönung schon krank und starb nach neunundneunzig Tagen, ohne je einen kaiserlichen Geburtstag zu begehen. Noch am Todestag hatte man seinen ältesten Sohn Friedrich Wilhelm zum Nachfolger ernannt, ein Januarkind. So bekam Alfred den drei Kaisern zum Trotz in seinem ganzen ersten Schuljahr keinen einzigen Kaiserwecken.
    Alles in allem erwies sich die Schule als enttäuschend. Er konnte das Geräusch der Griffel auf den Schiefertafeln schlecht ertragen. Neben ihm saß ein kleiner, schielender
Junge, der hin und wieder Karamell mitbrachte und schlecht roch. Er hieß Gregor und zwickte Alfred unter dem Pult in den Schenkel. Im Rechnen schrieb er ab, so dass Alfred sich ganz an die Wand drücken musste. Wenn der Lehrer Gregor etwas fragte, begann der manchmal zu weinen.
    Die Pausen waren Alfred unheimlich, weil er die anderen Kinder nicht kannte. Es gelang ihm kaum, sie voneinander zu unterscheiden. Erst wenn alle zurück ins Klassenzimmer strömten, rannte er noch einmal über den leeren Hof und wünschte, es bliebe noch Zeit.
    Der Lehrer hatte nur ein Auge, ein Bein und ein Stöckchen. Je ein Auge und Bein waren im Krieg geblieben, das Stöckchen klemmte unter dem Arm, wenn der Lehrer auf seinen Krücken ins Klassenzimmer humpelte.
    Was es zu beherzigen galt: gute Haltung. Mit geradem Rücken und geschlossenen Beinen blickten die Schüler nach vorn. Zweitens: Keiner sprach ungefragt. Das nannte man Gehorsam. Wer gefragt wurde, antwortete im ganzen Satz. Das war ein Gebot der Demut. Am meisten Mühe bereitete Alfred die vierte Regel: gute Form. Nach einigen Monaten wechselten sie zur Stahlfeder, was ihm noch schwerer fiel als das Führen des Griffels. In den Heften waren Linien vorgedruckt, zwischen die ihre Buchstaben gehörten.
    Der Lehrer sagte: »Wer die Linien übertritt, übertritt auch das Gesetz.«
    Er hielt Unterricht in Religion, Deutsch, Rechnen, Zeichnen, Singen und Turnen, außerdem in den Realien, Alfreds Lieblingsfach. Hier durfte er sein Oktavheft mit allem füllen, was ihn ohnehin beschäftigte: Er klebte Herbstblätter
ein, malte das verblüffende Muster eines Vogeleis ab und führte täglich Buch über
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