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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman
Autoren: Jo Lendle
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die Entwicklung des Wetters. Die schwarze Tinte, mit der er das Vogelei gezeichnet hatte, drückte sich auf der Rückseite des Bogens durch. Beim Umblättern lief Alfred ein Schauer den Nacken hinauf, als er begriff, dass so das Muster von innen aussah, dies war das Erste, was der Vogel in seinem Leben zu Gesicht bekam. Ob ein Vogel schon blinzelte, solange er im Ei steckte? Alfred stellte es sich einsam darin vor.
    Nach Ablauf des Jahres kamen neue Kinder in die Klasse und setzten sich in die erste Reihe, wo eben noch Alfred gesessen hatte. Er durfte eine Bank nach hinten ziehen, während Gregor sitzen blieb. Mit dem neuen Nachbarn verstand Alfred sich besser, gemeinsam zogen sie im nächsten Sommer weiter, und so ging es langsam nach hinten, fort vom Lehrer, Bank für Bank.

    Auch wenn Alfred keine leichte Beute für die Vergnügungssucht seiner Geschwister war, lernten sie bald, wie er sich ködern ließ. Sobald sie ihm anboten, Verstecken zu spielen, war er mit von der Partie. In den Sommerferien erfanden sie eine eigene Variante, die sie Hasenjagd nannten, und spielten, sobald sie mit dem Frühstück fertig waren. Dabei suchte nicht einer die anderen, dafür waren sie zu viele, sondern einer versteckte sich, und alle anderen machten sich auf die Suche. Gemeinsam stellten sie sich in den Kreis, schlossen die Augen und zählten zusammen bis hundert, murmelnd, es klang wie ein Vaterunser. Dann rieben sie sich die Augen und zogen aus nach dem Hasen.
Einzeln strichen sie über den Hof und durch die Räume, die zum Spielen freigegeben waren: das ganze Haus mit Ausnahme von Bibliothek, Küche und dem Schlafzimmer der Eltern.
    Anfangs riefen sie einander noch Hinweise zu, wenn sie sich trafen, wo man bereits geschaut habe und wo man nun suchen wolle. Bald aber konzentrierte sich jeder einfach auf seine Suche und ging den anderen aus dem Weg.
    Die Regeln des Spiels sahen vor, dass derjenige, der als Erstes auf den Hasen stieß, nicht jubelnd triumphierte, sondern stillschweigend mit ins Versteck schlüpfte. So leerten sich Haus und Hof allmählich, während es beim Hasen zusehends enger wurde. Kind um Kind drückte sich zu den anderen unters Bett, hinter die Tür, in den großen Kleiderschrank, wo man es flüsternd begrüßte, um ihm, sobald es zu Erklärungen ansetzte, warum es ausgerechnet hier niemanden vermutet hätte, die Hand auf den Mund zu legen.
    Alfred liebte die schleichende Vereinsamung, wenn das Spiel unmerklich leiser wurde und ihn allmählich nur noch Stille umgab, der leere Hof, verlassene Räume, manchmal ein eingebildetes Kichern. Nie wusste er, wann der Moment erreicht war, da er als Letzter noch suchte. Während er durch die Räume lief und mit halber Aufmerksamkeit Ausschau hielt, fühlte sich sein Übrigbleiben an wie ein Gewinn.
    Manchmal lief er weiter, obwohl er längst ahnte, wo die anderen steckten, zu einer Extrarunde durchs Haus. Er kam sich vor wie der einzige Überlebende einer Schlacht. Niemand konnte wissen, was er wusste, er gab vor, den herausstehenden Fuß eines Bruders nicht gesehen, ein Flüstern
nicht gehört, die Ausbeulungen im Vorhangstoff im Durchgang zur Veranda nicht bemerkt zu haben. Auf einmal sah er Dinge, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Offenbar musste man das Bekannte außer Acht lassen, um Neues zu finden. Er stand im Hof, als er das dachte, im Schatten der Mauern, aber oben auf dem Dachfirst der Scheune lagen schon die Strahlen der frühen Sonne. Es würde ein schöner Tag werden. So lief er weiter, den Blick hinauf zum Himmel gerichtet, auf die vom Nordwind sauber gekämmten Zirruswolken, die im Morgenlicht aussahen, als hätten sie kein Gewicht.
     
    Es war ein Topf mit roten Geranien, über den er stolperte, seine Mutter hatte ihn gerade erst hinausgestellt, weil die Blattläuse überhandnahmen. Alfred stürzte hin und landete mit dem Gesicht in den Brennnesseln am Fuß der Gartenmauer. Obwohl er sich wehgetan hatte, blieb er einen Moment lang so liegen, das blutig geschlagene Knie mit den Händen umklammert, ihm war nicht nach Weinen zumute. Als er die Augen öffnete, saß vor ihm in den Brennnesseln eine Raupe.
    Sie war dick, leuchtend rot und stachelig, er hockte sich vor das Blatt, an dem sie fraß, es kitzelte, als er sie in die Hand nahm. Nachdem er sie lange genug betrachtet hatte, die schwarzen Füßchen, den hellen Schleier am Bauch, die Einschnürungen hinter jedem Segment, schloss er die Finger darum, stand auf und ging zum Versteck. Längst hatte
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