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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit
Autoren: Ennio Flaiano
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vermutete, die Frau sei von irgendeinem Offizier, der zum ‹Heiraten› aufgelegt war, dorthin geführt worden. Er begab sich dorthin, um nach ihr zu fragen.»
    «Na, und?», fragte ich. (Ich fand, dass der Leutnant eine unheilbare Neigung zu Komplikationen habe.)
    «Na, und», fuhr er fort,«die Arbeiter der Baustelle, die ja immer nach einem Vorwand suchen, um sich zu vergnügen, ließen den jungen Mann im Glauben, die Frau sei wirklich bei der Baustelle und in einem Zelt eingesperrt. Vielleicht im Zelt des Arztes? Unnütz, sich das zu fragen. Daraus folgte, dass der Junge, die Eifersucht bezähmend (welche die Leute dort unten meiden, weil sie den Dingen ihren richtigen Wert beimessen), bis zum Sonnenuntergang wartete; aber vielleicht kam ihm der Spaß übertrieben vor. Dann schlug er mit dem Stecken auf einen Arbeiter ein, wodurch er sich unwiederbringlich seinen Unterwerfungsausweis verscherzte.»

    «Auf einen Arbeiter?»
    Fast wie um mir zuvorzukommen, erwiderte der Leutnant:«Ja, und wir können zumindest hoffen, dass es sich um den blonden Arbeiter handelt. »
    «Und erhängten sie den jungen Mann deshalb? »
    «Nein. Unglücklicherweise ereignete sich in derselben Nacht der Überfall auf die Baustelle, die Banditen wurden zurückgeschlagen, sie trugen einiges weg und ließen ein paar Leichen zurück. Die Arbeiter brachten den Überfall unglücklicherweise mit den Drohungen des Jungen in Zusammenhang, ja, sie glaubten sogar, er sei von ihm angezettelt worden. Und am Tag darauf kamen, unglücklicherweise, die Zaptiè vorbei, eher darum besorgt, ein abschreckendes Beispiel zu geben, als Nachforschungen anzustellen. Der Verdacht genügte.»
    «Ich verstehe», sagte ich,«und wenn ich mich nicht irre, neigst du dazu, die Verantwortung für das Massaker meinem Pistolenschuss zuzuschieben. Wenn es so weitergeht, wird die Zukunft Afrikas aufs Spiel gesetzt durch meinen Pistolenschuss. »
    «Nein», sagte der Leutnant,«aber das Massaker beendet eine Folge von unseligen Umständen, die durch deinen Pistolenschuss ausgelöst wurden.
Und dein Pistolenschuss wiederum beendet eine andere Folge von unseligen Umständen. Welcher war der erste davon? Wenn wir es wüssten, hätten wir den Schlüssel zu deiner Geschichte. So hingegen kommt sie uns nicht bedeutsamer vor als ein Würfelspiel, bei dem alles dem Zufall überlassen bleibt. Welches war der erste unglückliche Umstand? Der umgestürzte Lastwagen? Der Maultierkadaver, der die Abzweigung verdeckte? Dein Verweilen am Wildbach? Deine Angst? Der Stein, der den Schuss in eine andere Richtung lenkte? Das wilde Tier? Oder die Päckchen mit Süßigkeiten, die ‹sie› dir schickte? Oder auch einfach der Zahn, der dir weh tat? Immerhin wäre es gut zu wissen, ob es ein Weisheitszahn war.»
    «Nein», sagte ich,«es war kein Weisheitszahn.»
    «Gut», fuhr er fort,«das ist ein Grund zum Trost. Aber wir sind wieder am Anfang. Wie alle Geschichten dieser Welt entzieht sich auch die deine einer Nachforschung. Zumindest, wenn man nicht annehmen will, dass die ‹unglücklichen Umstände› dir folgten, weil sie einen Teil deiner Person ausmachten. Sie gehorchten nur dir. Du warst es ja letzten Endes. Doch wo wieder beginnen? Wie eine Lehre daraus ziehen? Aus dir ist jetzt ein weiser Mensch geworden, aus dem oberflächlichen jungen Mann, der du warst, und zwar nur aufgrund eines Mordes, den du begangen
hast, ohne ihm die geringste Bedeutung beizumessen. Gratuliere.»
    Wir schwiegen. Mariam getötet zu haben erschien mir jetzt als ein unumgängliches Verbrechen, allerdings nicht aus den Gründen, die mich dazu bewogen hatten. Es erschien mir sogar eher als eine Krise denn ein Verbrechen, eine Krankheit, die mich für immer beschützen würde, da sie mich mir selbst offenbarte. Ich liebte jetzt mein Opfer, und ich konnte nur fürchten, dass es mich verlassen könnte.
    Jenseits der Brücke heulten die Schakale, und doch kündigte der Tag sich an. Gegenüber, auf der anderen Seite des Tals, tauchten die düsteren Berge der Gegend auf, wo hundert und mehr Kilometer voneinander entfernt kleine Klöster Menschen beherbergen, die dorthin gehen, um nur die Einsamkeit zu suchen. Wahrscheinlich eine andere Einsamkeit als jene, die uns in den Städten so traurig macht und uns auf die Straßen, in die Cafés, in die Theater treibt, wo wir uns an der Wärme einer ebenso traurigen Menschheit zu trösten suchen. Aber können sie leben unter diesem Himmel, der wie ein Vorhang den Horizont
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