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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit
Autoren: Ennio Flaiano
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deshalb, um sie unmöglich zu machen, hast du die Schraubenmutter abgedreht im Glauben, auf diese Weise in das Schicksal des Majors einzugreifen.»
    «Und nun?», fragte ich.
    «Nun bleibt uns nur eine einzige Hypothese. Wenn er über die Brücke fuhr, ohne zu telefonieren (schließen wir aus, dass das Telefon kaputt war, denn die Linie ist doppelt geführt), müssen wir vermuten, dass er nicht telefonieren wollte, auch nicht, nachdem er auf dem Hochland angelangt war. Das heißt, wir müssen vermuten, dass er dich nicht anzeigen wollte. Und diesen Entschluss fasste er nicht unterwegs, sondern er fasste ihn, während er wieder in das Lastauto einstieg nach dem Wortwechsel, den er mit dir gehabt hatte. Was hätte es ihm schon ausgemacht, umzukehren? Oder auch sich zu weigern, weiterzufahren? Hättest du geschossen? Nein, du musstest jede Komplikation vermeiden. Also verzichtete er vom ersten Augenblick an auf die Anzeige. Indem er Mariams Geschwätz keine Bedeutung beimaß, hatte er sich schon mit dem Gedanken an den Diebstahl abgefunden. Unbewusst abgefunden. »
    «Wir sind wieder am Anfang», sagte ich.«Warum wollte er mich nicht anzeigen?»

    «Das zu beurteilen überlasse ich dir», erwiderte der Leutnant.«Aus Mitleid, stelle ich mir vor. Oder vielleicht, weil er deinen Rat annahm, sich mit einer weiteren Fahrt das Geld wieder zu beschaffen. Jedenfalls, Angst schließe ich aus. Der Major kann keine Angst verspürt haben.»
    Er schwieg; und da fragte ich ihn, ob der Major tot sei. Seine Zurückhaltung hatte mich schon so etwas vermuten lassen, aber die kurze Antwort überraschte mich dennoch. Ja, im ersten Augenblick weigerte ich mich, es zu glauben.«Vielleicht», so dachte ich,«ist dies für den Leutnant ein makabrer Vorwand, um sich hinter meinem Rücken zu amüsieren.»Erst als er den Satz mehrmals wiederholt hatte - auch er war erstaunt, dass ich mich nicht damit abfand, dass dem Major dieses Ende beschieden war -, musste ich mich ergeben. Er scherzte nicht.«Der Major», sagte er,«fuhr zwar über die Brücke, doch er kam nie auf dem Hochland an.»Und er schloss:«Er kann also keine Angst empfunden haben, sondern nur Schrecken oder Verwunderung.»
    Der Leutnant vergnügte sich damit, die letzten geistreichen Bemerkungen auszukosten, um diese lange Nacht, die letzte unserer Freundschaft, ohne Reue zu beschließen. Als er mich so schweigsam sah (ich dachte wieder an den Major, wie er auf Mariams Bett saß, damit beschäftigt, sich die
weiße weibische Brust zu reiben, und wie sein Gesicht unzweifelhaft Sympathie ausdrückte), wurde er plötzlich ernst und sagte, es könne ja auch sein, dass ich keine Schuld daran habe. Es gebe viele Ursachen, welche einen Lastwagen zum Abstürzen bringen, Afrika sei voll von umgekippten Lastwagen. Wir könnten die Ursache leicht nachprüfen, wenn ich wolle.«Wenn die Schraube an ihrem Platz ist», schloss er,«hat niemand Schuld. Am wenigsten die Schraubenmutter.»
    Ich gab keine Antwort. Der Major war vorübergefahren, ohne zu telefonieren, aber er erreichte das Hochland nicht. Vielleicht war er aus anderen Gründen abgestürzt, nachdem er den Schaden behoben hatte. Aber wer hatte die Schraubenmutter abgedreht? Ich etwa? Ich, dieser anmaßende junge Mann, der am Straßenrand auf die Uhr schaute und beim Gedanken, dass der Lastwagen nicht abstürzte, zitterte? Ich, der ich mir vom ersten Augenblick an vorbehalten hatte, in der Geschichte des Majors eine Rolle zu spielen?«Gut», dachte ich,«die Geschichte des Majors ist zu Ende, aber meine fängt gerade erst an.»
    Die Trompete blies zum Wecken, und bei den ersten Tönen brach der Freudenschrei der Soldaten los. Jetzt waren alle auf den Beinen, um die Zelte abzubrechen. Sie riefen durcheinander und jubelten dem Tag der Abreise zu, verwundert,
dass er nun wirklich gekommen war. Von diesen Rufen angespornt, wiederholte der Trompeter das Signal, fügte Triller und drollige Variationen hinzu, und dann kam er, um es am Rand des Tals zu wiederholen. Alle sollten den Weckruf dieses Tages hören, auf den er seit zwei Jahren gewartet hatte.
    «Wir können es sofort nachprüfen, wenn du willst», wiederholte der Leutnant hartnäckig.
    Und alle hörten sie nun das Signal, aber keiner konnte sich fortbewegen. Jene in den Kisten konnten sich nicht rühren unter dem warmen Sand des Flusses, und auch nicht die Erhängten oder der Abessinier, der zum Himmel hinaufzeigt (und wer weiß, ob er dort nicht noch etwas anderes sieht als sein
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