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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit
Autoren: Ennio Flaiano
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beide an Johannes: Gedanken, die einem kommen, wenn man ein Tal betrachtet, das sich im dunstigen Morgengrauen eines so sehr herbeigesehnten Tages erhellt. Ich dachte an Johannes, an seine Umschläge, an seinen letzten Gruß auf dem Hügel.

2
    «Bleibt noch der Major», sagte ich.«Diesen dunklen Punkt möchte ich aufklären. Es ist klar», hier lachte ich,«dass der Major Angst gehabt hat.»
    Die Berge waren aus dem Schatten aufgetaucht, die Sonne traf schräg auf sie, doch das Tal schien eingeschlummert zu sein, einem Schlaflosen gleich, der auf die Gesellschaft der Sonne
oder das Besenwischen des Straßenkehrers auf dem Pflaster wartet, ehe er sich zum Ruhen entschließt. Das Brüllen der wilden Tiere war nicht mehr zu hören, und der Nachtwind wich schon der Schwüle des Morgens.«Bleibt noch der Major», wiederholte ich.
    Der Leutnant zündete noch eine Zigarre an; dann sagte er:«Ja, der Major hat Angst gehabt und auf die Anzeige verzichtet. Oder er hat keine Angst gehabt und die Anzeige nur aufgeschoben. Schwer zu sagen.»
    «Er hat darauf verzichtet», sagte ich.«Wie hätte er seine Einkünfte gerechtfertigt? Er hat Angst gehabt, sie zu verlieren. Das ist alles.»
    Ich sah den Major wieder vor mir auf dem Kai hin und her spazieren und zuschauen, wie die Kisten mit übermenschlicher Anstrengung von den halbnackten Eingeborenen ausgeladen wurden. Er schaute ihnen unentwegt zu mit diesen Augen, die eine erst vor kurzem erworbene Verschlagenheit nicht verbergen konnten. Und dann wandte er seinen Blick - gleichsam wie einen Bindestrich - dem türkisblauen Lastauto zu, das im Schatten ausruhte, neben der Bar.
    «Zu einfach», sagte der Leutnant.«Aber es wird gut sein, sich über die Art seiner Angst klarzuwerden. Die Angst hat unendlich viele Abstufungen und kann klassifiziert werden. Da ist einmal die
Angst, die einen ‹vorher› packt, und das ist die Angst der Weisen und Vorsichtigen; die Angst, die… Langweile ich dich?»
    «Nein», sagte ich,«mach weiter.»(In Wirklichkeit dachte ich, dass der Leutnant nicht nur eine Neigung, sondern geradezu das Laster habe, die Dinge zu komplizieren.)
    «Die Angst», fuhr er fort,«die ‹hinterher› kommt, das ist die Angst der Mutigen. Und schließlich gibt es noch die Angst ‹währenddessen›, und das ist die Angst, die tötet (wie du richtig bemerkt hast) oder auch feige macht. Nun, ich bin sehr im Zweifel, wie ich die Angst des Majors einordnen soll. Bist du ganz sicher, dass du die Schraubenmutter abgenommen hast?»
    «Da ist sie», sagte ich und zog sie aus der Tasche. Der Leutnant betrachtete die Schraubenmutter und ließ sie auf der Handfläche hüpfen; er schien wenig überzeugt zu sein. Ich dachte daran, dass ich in Massaua dem Major nicht gern begegnen wollte. Ich konnte ihm das Geld zurückerstatten, ja, ich musste es ihm sogar zurückerstatten, aber warum ihm begegnen?«Er wird mich nicht wiedererkennen», schloss ich.«Ich habe einen viel längeren Bart als damals, als ich ihm das erste Mal begegnete und er mir befahl, mich zu rasieren.»
    Da der Leutnant schweigsam blieb, bat ich ihn weiterzusprechen. Und mit Mühe (vielleicht war
er schläfrig) sagte er:«Dieses Tal hat zwei Hänge. Wir sind auf dem Rand des Nordhangs, du hast diese Schraubenmutter auf dem Südhang vom Lastauto des Majors abgeschraubt: dort oben, wenn ich mich nicht irre», und der Leutnant zeigte auf den Rand gegenüber, der sich rosa färbte.«Beunruhigt wegen der Anzeige, hieltest du dich für geschlagen, als du das Lastauto auf der Straße sahst, die zur Brücke führt, das heißt zum Telefon des Kontrollpostens. Stattdessen fuhr der Major weiter, ohne zu telefonieren.»
    «Gewiss», sagte ich,«aber warum fuhr er weiter, ohne zu telefonieren? Vielleicht war das Telefon kaputt. Unterwegs wird der Major gründlich über seine Lage nachgedacht haben, und schließlich hat er auf die Anzeige verzichtet. Die Angst packte ihn also vorher.»
    «Kann sein», sagte der Leutnant,«doch ich glaube kaum, dass der Major Angst hatte, angezeigt zu werden. Nein, wenn der Major Handel trieb, musste er Rückendeckung haben, vielleicht war er die letzte Masche in einem weitgespannten Netz.»Und er setzte hinzu:«Hätte er die Anzeige eines Offiziers fürchten müssen, der des Diebstahls schuldig war und wegen Mordversuchs bereits gesucht wurde?»
    «Vielleicht», sagte ich.
    «Nein», entgegnete der Leutnant,«er hätte
nichts zu fürchten brauchen. Immerhin fürchtetest du die Anzeige, und eben
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