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Alles bleibt anders (German Edition)

Alles bleibt anders (German Edition)

Titel: Alles bleibt anders (German Edition)
Autoren: Siegfried Langer
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ältere Dame in der blauen Schuluniform mittlerweile dafür sorgte, dass ihre Schützlinge sich benahmen, nicht länger mit offenem Mund zu ihm herüberstarrten und mit ihr ein Stück zur Seite gingen, bemerkte er nur am Rande.
»Können Sie mich verstehen? Sprechen Sie deutsch?«
Auch der Mann mit der Zeitung wandte sich nun, zusammen mit dem anderen Anzugträger, von dem Gespräch ab, genau wie die junge Frau es auch schon getan hatte. Anstand war der Grund dafür, nicht etwa fehlende Neugierde.
Der Schaffner wusste sich schließlich nur noch damit zu helfen, den Fremden am Oberarm zu packen und mitzuzerren.
»Sie kommen erstmal mit zur Stationsaufsicht!«
Der endlich eintreffende Zug lenkte für einen Moment seine Aufmerksamkeit ab, und Frank gelang es, die Hand des Schaffners abzuschütteln und loszurennen.
Beim Schaffner, hin und her gerissen, ob er dem Flüchtenden nacheilen oder sich um die Abfertigung der eingefahrenen Bahn kümmern sollte, siegte das Pflichtgefühl.
Sollte dieser Lebensmüde doch machen, was er wollte, die Sicherheit am Bahnsteig ging vor. Den Mann ohne Nachnamen erwähnte er nur noch in seinem Dienstbericht, den er bei Schichtende seinem Vorgesetzten in dessen Fach legte. Darüber hinaus interessierte er ihn nicht mehr.
Und Frank rannte. Er rannte durch das große Portal hindurch, das den Bahnsteig mit der Bahnhofshalle verband, dann geradeaus, an einer breiten, nach unten führenden Treppe vorbei, die Zugang zu anderen Gleisen verschaffte, und schließlich durch die kuppelförmige Halle selbst. Unbewusst nahm er die Menschen wahr, die da standen, warteten, an einem Imbiss etwas aßen, sich gerade an den Auskunfts- und Fahrkartenschaltern eine Reiseverbindung ermitteln ließen oder ein Billet lösten. Dienstmänner, die schwere Koffer und Reisetaschen schleppten; Reisende, die schnellen Schritts die Halle durchquerten. Der eine oder andere drehte sich irritiert zu dem Rennenden um. Dann war Frank auch schon durch die Vorhalle hindurch und kam auf einem gepflasterten Bürgersteig zum Stehen. Nur für einen kurzen Moment hielt er inne, um zu erfassen, wo er war. Geradeaus standen mehrere Pferdedroschken, aber auch einige motorgetriebene Fahrzeuge, auf dem Trottoir selbst herrschte eine ähnlich geschäftige Betriebsamkeit wie in der Halle. Er lief weiter nach rechts den Bürgersteig entlang, immer weiter, bis er an den Bahnhofsgebäuden und den sich anschließenden Mietblöcken vorbei war. Dann bog er nach links ein, in eine Gasse, und weiter in die nächste. Dass er gar nicht verfolgt wurde, bemerkte er nicht. Erst als seine Kräfte nachließen, verlangsamte er seine Geschwindigkeit, nach Atem ringend und mit erhöhtem Puls. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die nasse Stirn.
Im Schritttempo weiter, rastlos, ziellos, unter einer Hochbahn hindurch, passierte er stinkende Gassen und verschmutzte Straßen. Spielende Kinder, Männer und Frauen auf Fahrrädern und Hochrädern, ein von Pferden gezogener Bus. Bis er irgendwann, Stunden später, an eine Parkbank gelangte, sich niedersetzte und zu Boden starrte. Er erinnerte sich an die Szene am Bahnhof, ansonsten erinnerte er sich an nichts. Er fühlte sich absolut leer und ausgebrannt.
Wie war er dort nur hingekommen?
Sein Blick fiel auf seine schwarzen Lederhalbschuhe. Nein, er wusste nicht mehr, wann er sie gekauft, geschweige denn, wann er sie angezogen und zugeschnürt hatte. Die dunkelgrauen Wollsocken und die schwarze Stoffhose, erkannte er ebenso wenig wie die Schuhe oder sein Hemd aus weißer Baumwolle. Die beiden Anzugträger fielen ihm ein und er fasste sich auf den Kopf. Müßig: hätte er, wie die beiden einen Zylinder getragen, hätte er ihn längst beim Rennen verloren. Auch Krawatte oder Fliege trug er nicht.
Ein Griff an seine Gesäßtasche: keine Geldbörse mit Geld oder etwa einem Ausweis.
Dann entdeckte er etwas auf seiner Brust; er spürte Metall. Er öffnete die obersten beiden Hemdknöpfe und zog ein silbernes Medaillon hervor, an einem dünnen, aber stabilen Kettchen hängend. Neugierig, welches Bildnis wohl darin zum Vorschein kommen mochte, suchte er den Öffnungsmechanismus. Er fand ihn und drückte darauf. Der Deckel klappte nach oben. Doch nicht das erhoffte Antlitz aus einer ihm noch unbekannten Vergangenheit lächelte ihm entgegen, kein jüngeres Ebenbild seiner selbst oder das Gesicht einer früheren Liebe. Es sah aus wie ein Knopf, der sich eindrücken ließ. Vorsichtig fühlte er mit dem Zeigefinger über die
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