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Alles bleibt anders (German Edition)

Alles bleibt anders (German Edition)

Titel: Alles bleibt anders (German Edition)
Autoren: Siegfried Langer
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    Für einen Augenblick nahm er seine Umgebung als Park wahr.
Für einen Augenblick sah er Frauen mit Kopftüchern, Männer mit Schnurrbärten und dazwischen spielende Kinder. All diese Menschen bevölkerten die Wiesen ringsum und drängten sich um qualmende Grille. Er roch sogar die Fleischstücke und die Würste, die auf den Rosten lagen, doch auch dieser Sinneseindruck blieb nur für den Bruchteil einer Sekunde präsent, um dann für lange Zeit wieder aus seinem Bewusstsein zu verschwinden.
Der Geruch verflüchtigte sich genau so schnell, wie sich das Gebäude vor seinen Augen verwandelte. Die Architektur blieb die gleiche, aber an der Stelle, an der gerade noch 'Deutsch-Türkischer Sportverein' neben einem schwarz-rot-goldenen Halbmond auf weiß getünchter Mauer prangte, stand nun plötzlich 'Görlitzer Bahnhof' in gotischen Lettern auf dem unverputzten Backsteingebäude. Als hätten sein linkes und sein rechtes Auge unterschiedliche Informationen an sein Gehirn weiter gemeldet und dieses hätte binnen kürzester Zeit entschieden, welches die korrekte Umgebung zu sein hatte, die er da beobachtete.
Nur dieser Augenblick der Unsicherheit und des Schwindels. Dann stand er wieder mit beiden Beinen fest auf der Erde und hatte das, was er eben gesehen hatte, auch schon wieder vergessen.
»He, Sie da!«
Irgendjemand bellte ihn an und als er am Bahnhofsgebäude entlang sah, erkannte er Menschen, die zu ihm starrten: Zwei Männer mit Zylindern auf den Köpfen, in Anzug und Fliege, einer trug eine Zeitung unter den Arm geklemmt; eine junge Frau mit schulterlangem, blondem Haar, in einem fliederfarbenen, knöchellangen Kleid; ein ganzes Rudel Kinder im Alter von etwa acht Jahren in dunkelblauen Schuluniformen mit goldenem Emblem auf der Brust. Mehrere der Kinder glotzten mit offenem Mund zu ihm herüber, mitten unter ihnen eine ältere Dame in der gleichen Uniform, die ergrauten Haare zu einem Dutt nach oben gesteckt.
»Ja, Sie meine ich!«
Jetzt sah er auch den Mann, der da brüllte und ganz offensichtlich ihn meinte: ein stämmiger, vollbärtiger Mann, eine graue Uniform inklusive Schirmmütze tragend. Hätte er näher bei ihm gestanden, hätte er das Wort »REICHSBAHN« in schwarzen Buchstaben am Ärmel lesen können.
»Kommen Sie sofort da herunter!«
Was der Mann in der grauen Schaffnerkleidung mit 'da' meinte, bemerkte er, als er an sich herab sah und feststellte, dass er auf einer Schwelle stand, die zu einer Gleisanlage gehörte.
»Sind Sie lebensmüde?«
Jeder andere an seiner Stelle hätte schleunigst die Schienen verlassen. Er jedoch ging langsam und gemächlich auf den Bahnsteig zu, war sich der Gefahr gar nicht bewusst. Die dort Versammelten beobachteten jeden seiner Schritte.
»Mann, haben Sie ein Glück, dass der Elf-fünfundvierziger zehn Minuten Verspätung hat!«, sagte der Mann in grau und streckte ihm eine Hand entgegen; auch der Anzugträger mit der Zeitung unter dem Arm, nahm diese nun in die eine Hand und reichte ihm die andere. Er ergriff sie beide und ließ sich auf den etwa achtzig Zentimeter erhöhten Bahnsteig hieven.
Der Schaffner vergewisserte sich mit einem Blick nach links, dass der erwartete Zug immer noch nicht in Sichtweite war, und zeigte Erleichterung, die sogleich von einem strafenden Ausdruck verdrängt wurde.
»Es ist Unbefugten verboten, den Gleiskörper zu betreten. Ich bin verpflichtet, darüber Meldung zu erstatten«, zitierte er und zog Notizblock und Stift aus seiner Brusttasche. »Wie heißen Sie?«
»Frank«, sagte der Angesprochene ohne zu zögern. 'Frank' war der Name, der ihm spontan eingefallen war und er wusste auch, dass es der Richtige war: der Seine. Er wusste nicht, wie er hier auf diesen Bahnhof kam, geschweige denn, warum er hier war; aber an seinen Namen, an den erinnerte er sich plötzlich wieder. Ähnlich einem alten Menschen, bei dem große Lücken im Gedächtnis klaffen und der dennoch stets das Datum seiner Geburt nennen kann, wenn man ihn danach fragt.
So bestätigte Frank mit der Aussprache seines Vornamens mehr sich selbst als dem Schaffner, wer er war.
Der Schaffner notierte. »Und Ihr Nachname?«
Frank wurde sich der Situation, in der er sich befand, immer noch nicht bewusst. Er fragte sich nicht, warum und wofür der Schaffner diese Informationen von ihm wollte. Nein, er war ihm dankbar, denn er wollte selbst wissen, wie sein Nachname war; in Gedanken suchte er ihn, konnte ihn aber nicht finden.
»Ihr Nachname?«, beharrte der Bärtige.
Dass die
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