Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

und sich einer ganzen Gruppe von Ärzten präsentieren. Wenn man im Vorhinein wüsste, wohin ein Weg führt, den man aus freiem Entschluss gewählt hat. Sein Mantel und seine Kleider werden inzwischen desinfiziert, als er sie nach der Untersuchung zurückerhält, sind sie zerknittert. Mit Scham also musste man sich das Leben in Freiheit erkaufen, oder bestand eben darin die Freiheit, dass die Scham hier nichts mehr galt? Dann war Amerika wohl wirklich das Paradies.
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    I hr Mann wusste seit anderthalb Jahren, was nach dem Tod kam, und sie würde es nun auch bald wissen. Die Tochter dagegen, obgleich länger als sie verwitwet, hatte noch einen Gutteil des Weges zu gehen, sie mühte sich mit dem Geschäft, und was würde wohl aus der Enkelin werden, wenn die eines Tages allein auf der Welt war?
    Zwei Schiffe liegen im Hafen. Obgleich sie ihre Ohren mit den ausgeleierten Ohrläppchen dicht an den Mund ihres Mannes hält, ist sein Flüstern so leise, dass sie den Rest der Geschichte kaum hört, aber sie hat sie selbst oft gelesen. Das eine der beiden Schiffe ist eben von einer weiten Reise zurückgekehrt, das andere macht sich gerade bereit für eine weite Reise.
    Sie versucht, ihrem Mann, den das Sprechen sehr anstrengt, zu trinken zu geben, aber er will nicht schlucken, und so rinnt das Wasser über sein stoppelbärtiges Kinn bis hinunter aufs Kissen.
    Jubel und Segenswünsche begleiten das absegelnde Schiff – das angekommene dagegen wird von niemandem beachtet. Aber verdient nicht dieses in Wahrheit den Jubel?
    Es ist schade, dass sie mit ihm nur die eine Tochter hat großziehen können. Zwei andere Kinder waren kurz nach der Geburt gestorben. Wenn sie an manchen Abenden über die gestorbenen weinte, hatte er sich neben sie gesetzt und genickt.
    Das angekommene Schiff liegt glücklich im Hafen. Von dem absegelnden aber weiß man nichts. Wer kennt sein Schicksal? Wer weiß, ob es den Stürmen, die ihm bevorstehen, Widerstand wird leisten können?
    Ihre Tochter hat neulich gemeint, vielleicht sei es klüger, den Laden zu schließen und dafür einen Teil der Wohnung zu vermieten.
    Oder magst du lieber Suppe?
    Das Kissen war von dem Wasser, das sie ihm hatte zu trinken geben wollen, noch nass, da hatte er schon aufgehört mit dem Atmen.
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    D ie Händlerin erinnert sich noch gut an den Tag, an dem der Goj zum ersten Mal ins Geschäft kam und ihr Mädchen, das gerade sechzehn geworden war, sah. Sie selbst hatte ihn wenig später, als er ernsthaft interessiert schien, auf einen Tee in ihre Wohnung gebeten, vormittags, da war die Kleine noch in der Schule. Hatte ihm das Wohnzimmer und das Bücherregal mit der Goethe-Ausgabe gezeigt, hatte von der Mitgift gesprochen und ihn schließlich sogar ins Zimmer der Tochter geführt, das Kleid, das diese am Vortag getragen hatte, hing noch über der Lehne des großen Sessels, von den Schuhen, die daneben standen, war einer umgekippt, auf dem Bett lag die Hauskatze zusammengerollt und schlief.
    Sie wissen aber sicher, wir sind jüdischer Herkunft.
    Das weiß ich.
    Noch können Sie gehen.
    Sie hatte schon viele Waren in ihrem Leben verkauft. Sie wusste, wann es für einen Kunden zu spät war, das Geschäft zu verlassen. Je mehr Freiheit man ihm ließ, um zu wählen, desto sicherer wählte er genau das, was er sollte.
    Wo denken Sie hin.
    Beide hatten noch eine Zeitlang schweigend neben dem Bett des abwesenden Mädchens gestanden und auf die Katze geschaut, die ihre Krallen im Traum manchmal ausfuhr und dann wieder ins Fell zurückzog.
    An diesem Vormittag hatte sie für das Glück ihrer Tochter das Glück ihrer Tochter verkauft. Manchmal wuchs so ein Preis sich aus und wurde erst lange, nachdem man ihn bezahlt hatte, zu teuer. So ein Handel ist ein lebendes Gleichgewicht, das hat sie erst in den letzten drei Jahren, nach dem Abhandenkommen des Schwiegersohnes, verstanden. Gewinn und Verlust bedienten sich eines Verkäufers nur, um miteinander zu spielen, im Grunde genommen aber handelten sie mit sich selbst und glichen sich irgendwann auch selbst wieder aus. In der sonnigen Stille eines Sabbats fällt ein Brief aus einer sich öffnenden Hand in eine Hand, die jemand aufhält. Einem Mann, der am Sabbat einen Brief überbringen will, ist nicht erlaubt, so steht es im Talmud, den Brief zu übergeben, denn das wäre Arbeit. Arbeit wäre es, von der Straße her einzutreten in ein Haus, also die Vermischung von innen und außen. Am Sabbat aber soll der Mensch ausruhn, und die drei Räume