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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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– Außen, Innen und Wildnis – sollen jeder für sich sein. Träte der Bote jedoch an das zur Straße geöffnete Fenster des Empfängers und ließe den Brief in die Hand des Empfängers fallen, verließe der Bote seinen Raum nicht, die Straße, und auch der Empfänger bliebe in seinem, dem Haus – überdies wäre das Fallenlassen des Briefes kein Geben noch sein Empfang auf der offenen Hand ein Nehmen. Wie heftig hatten sie und ihr Mann mit den alten Eltern darüber diskutiert, dass hier der Talmud selbst den Weg zum Betrug wies, zum Überschreiten der Regeln, für die er eigentlich zuständig war. Ihr Vater sagte, es gehe nur um die genaue Bezeichnung der Grenzen, ein Verbot einzuhalten sei ja nicht möglich, wenn man nicht ganz genau wisse, wo es beginne und ende. Ein Gleichnis sei das jedenfalls nicht, hatte ihr Mann gesagt, sondern, im Grunde genommen, reine Mathematik. Ihre Mutter hatte gelacht und gefunden, gottlob nur sei, was der Bote fallenlasse, kein Ei. Sie selbst hatte damals das Zögern des Boten kleinlich genannt, ihr Vater hatte darüber gelächelt, dass sie so aufgebracht war, und gesagt, du verstehst nicht, was gemeint ist. Damals wollte sie auch nicht immer verstehen, was gemeint ist, denn der Vater war ja noch lebendig und da, und so lange durfte sie, auch als Erwachsene noch, die sein, die irrt. In der sonnigen Stille eines Sabbats fällt ein Brief aus einer sich öffnenden Hand in eine Hand, die jemand aufhält.
    Wie glücklich muss der sein, denkt sie inzwischen, seit zwanzig Jahren ist ihr Mann da schon erschlagen, seit drei Jahren ihre Tochter eine Verlassene und seit anderthalb Jahren der Vater tot und begraben, wie glücklich muss derjenige sein, dem es gelänge, in solcher Unbewegtheit wie der Bote in dieser Geschichte zu handeln, die Dinge einfach geschehen zu lassen und dennoch das, was ihm aufgegeben ist, zu überbringen. Wenn sie in ihrem Haushalt Spuren von Erde an einem Messer findet, das ihre alte Mutter gereinigt hat, ekelt es sie vor ihrer Mutter. Ihre Tochter wiederum bewegt sich im Laden immer so langsam, dass sie nicht selten Lust hat, sie an den Haaren zur Arbeit zu ziehen. Aber auch ihrem eigenen Körper sieht sie mit Ungeduld dabei zu, wie er sich abmüht, die Zehnkilosäcke mit Mehl auf den Wagen zu heben, die Bauern, die ihr manchmal helfen, manchmal auch nicht, heißen Marek, Krzystof, oder, und den Namen zu hören, fällt ihr immer noch schwer, oft auch Andrej.
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    W as mit den Händen begann, endet also auch mit den Händen. Soll sie dem Mann, der geglaubt hat, man könne sie kaufen, vielleicht etwas schenken? Sicher nicht, denkt sie und nimmt, als er fort ist, das Geld von der Kommode, geht aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, und tritt aus dem Haus, das nicht anders aussieht als andre, hinaus auf die Straße. Der ersten Bettlerin, die am Straßenrand hockt, schenkt sie das Geld, und zwei Tage lang sieht danach das Leben tatsächlich so aus wie das alte. Am dritten Tag aber, es ist ein Sonntag, betritt wieder der Offizier das Geschäft, als sei nichts gewesen, Zündhölzer wolle er kaufen, sagt er, wie immer, die Mutter wickelt eben im Hinterzimmer Waren in Zeitungspapier, es raschelt, da fasst er seine Geliebte von neulich über den Ladentisch hinweg beim Kinn, zwingt sie so, ihm in die Augen zu sehen, und sagt, und senkt nicht einmal die Stimme dabei, er habe da einen Freund, der ebenfalls interessiert sei.
    Raschelndes Zeitungspapier.
    Der Tag, die Uhrzeit, das Haus, das aussieht wie andre.
    Raschelndes Zeitungspapier.
    Wenn sie nicht wolle, dass jemand davon erfahre, solle sie hingehen.
    Stille.
    Mädel, kannst du mir mal helfen.
    Ja, Mutter.
    Gib’s zu, du hattest auch deinen Spaß.
    So ein Schlamassel – wo bleibst du denn, Kind, mir fällt gleich die Hand ab.
    Ich komm schon.
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    N ach der Prüfung des einreisenden Fleisches wird auch der Geist auf seine Richtigkeit hin überprüft, auf dreißig Fragen muss Mann, Frau und Kind Antwort geben, und nur, wessen Antwort genehm ist, der, die oder das darf übersetzen aufs Festland. Den Wahnsinn, die Melancholie, den Anarchismus – all diese und andere solche lässt man nicht ein. Waren sie jemals im Gefängnis? Betreiben sie Vielweiberei? Der Österreicher im nun zerknitterten Mantel fragt sich, ob in Amerika aufgrund dieser strengen Einreiseuntersuchung vielleicht längst schon nichts Ungenügendes mehr existiert, es dort keine Krüppel mehr gibt und keine unheilbare Krankheit, keinen Wahnsinn, kein
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