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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Prüfung.
    Wie meinst du das?
    Widerstehe ich nicht, heißt das, er hat schlechte Arbeit gemacht.
    Wenn der Großvater lachte, konnte sie in seinen Mund hineinsehen, und sah, wie wenige Zähne er nur noch hatte.
    Das wäre nun wirklich zum Weinen, wenn er, der das Wasser im Meer zusammenhält wie in einem Schlauch, sich an einem jungen Ding wie dir prüfen lassen wollte.
    Aber wozu braucht er sonst meine Entsagung?
    Damals waren ihre Beine schon so lang, dass sie, auf der Fußbank hockend, ihr Kinn mühelos auf die Knie stützen konnte. Wegen ihrer Hochzeit mit dem Goj hatte der Großvater dann für sie die Totenwache gehalten, Schiva gesessen, als sei sie gestorben. Von da an bis zu seinem eigenen Tod, vor anderthalb Jahren, hatte sie ihn nicht wieder gesehen. Ihr Großvater hatte sie verworfen, aber nach der Verwerfung durch ihn war ihr Leben ja weiter gegangen, und dauerte bis heute an. Welche Gesetze jedoch von da an für dieses Leben galten, das für ihn gar kein Leben mehr gewesen war, konnte sie niemanden fragen. Das Leben war von da an einfach nur noch das Leben gewesen.
    12
    E inmal müssen sie Rettungswesten anlegen, weil das Schiff durch dichten Nebel hindurchfährt und die Gefahr besteht, dass es mit einem anderen zusammenstößt, einmal stürmt es so sehr, dass eine alte Frau ihr Medaillon von der Halskette abreißt und unter Gebeten ins Wasser wirft, um den Herrgott mit dem Schiff zu versöhnen, einmal hört man auf einem der unteren Decks jemanden Geige spielen, ein Stück aus der Operette »Die Fledermaus«, aber der ehemalige Beamte kennt die Musik nicht, obgleich er in Wien studiert hat. Ginge er jetzt an der nicht endenwollenden Übelkeit zugrunde, wer bekäme dann seine Taschenuhr und den Mantel mit den goldenen Knöpfen? Der mitreisende Herr zeigt einem polnischen Kind eine Banane und erklärt, wie man so ein Ding schält. Die kleine schwarze Spitze der Banane beißt der Herr selber ab und spuckt sie in die See. Das Kind will die Banane aber nicht haben. Weder nach zwei, noch nach drei, noch nach vier Tagen legt sich die Übelkeit des jungen Mannes. Erst nach unendlichen zwölfeinhalb Tagen sieht er eines Morgens, inmitten einer Menge von Menschen, die sich plötzlich an Deck drängen, die Freiheitsstatue, und das ist immer noch besser, als sie niemals zu sehen. Der Herr hatte ihm unterwegs von einem deutschen Kapitän erzählt, dessen Schiff so marode war, dass er, statt die Fahrt über den Großen Teich zu wagen, mit seinen Passagieren nur vor der Küste von Schottland gekreuzt war, grad so weit vom Land entfernt, dass diese die Insel nicht sahen. Nach neun Tagen dann hatte er die Auswanderer in einem kleinen Hafen an Land gesetzt, mit dem Hinweis, das sei nun Amerika. Hier wie dort wurde ja Englisch gesprochen, eine Sprache, die keiner der Ankömmlinge verstand, und die Männer liefen in Röcken herum, wie das in New York wohl die neueste Mode war – deshalb dauerte es beinahe eine Woche, bis auch dem letzten Einwanderer klar war, dass er sich immer noch in Europa befand. Da aber war der marode Kapitän mit dem Geld für die Überfahrt in die Neue Welt natürlich längst auf und davon.
    Jetzt weinen Männer, Frauen und Kinder vor Rührung und zeigen sich gegenseitig die riesige Frauengestalt, manche umarmen den Erstbesten, der neben ihnen steht, den Österreicher will eine ältere Dame in die Arme schließen, aber der verwehrt sich dagegen. Er hat seinem Vater vor der Abfahrt nur eine Postkarte geschrieben, was soll er sich jetzt mit der Menschheit verbünden. Vielleicht ist er nun einmal ein kühler Mensch, denkt er zum ersten Mal über sich selbst und fragt sich, ob die Ankunft in der Fremde so bald schon aus einem Mann in derselben Haut einen anderen macht. Ein Kind zeigt auf die Statue und fragt: Wer ist das? Und er sagt: Columbus.
    13
    D as Haus, in das sie eintritt, sieht nicht anders aus als andere Häuser. Es ist Mittwochnachmittag, auf die Eingangstür fällt noch Sonne, der Mutter hat sie gesagt, sie besuche eine Freundin. Sie hat sich um fünf Minuten verspätet, damit sie ganz sicher nicht eher da ist als er. Noch bevor sie dazu kommt zu klopfen, macht er die Tür auf, er hat ihre Schritte auf der Treppe gehört. Er zieht sie hinein und verwandelt das Hineinziehen gleich in eine Umarmung, dann kommt der Kuss, dann berührt sie mit der Zunge seine Zähne, dann merkt sie, wie sein Speichel ihre Mundwinkel nass macht, dann stößt sie ihn weg, dann hält er sie fest, presst ihr
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