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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman
Autoren: Eichborn-Verlag
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Ein Morgen in Zinnober
    2.4.16.55.021: Männer haben sich auf Interkollektivreisen nach Kleiderordnung Nr. 6 zu richten. Hüte werden nachdrücklich empfohlen, sind aber nicht vorgeschrieben.
    Alles begann damit, dass mein Vater nicht das Letzte Kaninchen sehen wollte. Und es endete damit, dass ich von einer fleischfressenden Pflanze verspeist wurde. So hatte ich mir meine Zukunft nicht vorgestellt. Eigentlich hatte ich gehofft, in die Dynastie der Oxbloods einzuheiraten und ihr Bindfaden-Imperium zu übernehmen. Doch das war vor vier Tagen – bevor ich Jane kennenlernte, den Caravaggio wiederbeschaffte und Hoch-Safran erkundete. Und nun war ich, statt die Vorfreude auf chromatischen Aufstieg zu genießen, vollständig in den Verdauungssaft eines Yateveobaums eingetaucht. Es kam mir reichlich ungelegen.
    Aber ganz so schlimm war es dann auch wieder nicht, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens hatte ich das Glück gehabt, kopfüber zu landen. Ich würde also innerhalb einer Minute ertrinken, was immer noch leichter zu ertragen war, als sich über einen Zeitraum von Wochen bei lebendigem Leib aufzulösen. Zweitens, und das war entscheidender, starb ich nicht als Unwissender. Ich hatte etwas entdeckt, das man sich auch mit noch so vielen Meriten nicht kaufen konnte: die Wahrheit. Nicht die ganze Wahrheit, aber doch mehr als die halbe. Deswegen kam mir das alles so ungelegen. Ich konnte mit der Wahrheit nichts mehr anfangen, obwohl sie viel zu gewaltig und zu ungeheuerlich war, um sie zu ignorieren. Trotzdem: Wenigstens hatte ich sie eine geschlagene Stunde in Händen gehalten, die Wahrheit, und ich hatte verstanden, was sie bedeutete.
    Ich hatte nicht nach der Wahrheit gesucht. Eigentlich war ich in die Randzone geschickt worden, um eine Stuhlzählung vorzunehmen und mich in Demut zu üben. Die Wahrheit kam zu mir, zwangsläufig. Bei großen Wahrheiten geschieht das häufiger, so wie ein verlorener Gedanke sich einen freien Geist sucht. Und ich fand Jane, oder vielleicht fand sie mich, was im Grunde egal ist. Wir fanden uns gegenseitig. Obwohl sie eine Graue war und ich ein Roter, teilten wir ein Verlangen nach Gerechtigkeit, das über chromatische Politik hinausging. Ich liebte sie, und ich durfte annehmen, dass sie mich ebenfalls liebte. Immerhin entschuldigte sie sich, bevor sie mich in das kahle Rund unter dem ausladenden Yateveobaum stieß. Das hätte sie bestimmt nicht getan, wenn sie keine Gefühle für mich gehabt hätte.
    Doch gehen wir zurück, vier Tage, in die Stadt Zinnober, das Regionalzentrum des Roten Sektors West. Mein Vater und ich waren tags zuvor mit dem Zug angekommen und hatten im Grünen Drachen übernachtet. Wir hatten am Morgengesang teilgenommen und saßen jetzt beim Frühstück, etwas enttäuscht, aber nicht weiter überrascht, dass die Grauen Frühaufsteher bereits allen Schinkenspeck aufgegessen hatten und nur noch sein exquisiter Duft im Raum schwebte. Es blieben ein paar Stunden bis zum nächsten Zug, und wir hatten beschlossen, uns einige Sehenswürdigkeiten anzuschauen.
    »Wir könnten dem Letzten Kaninchen einen Besuch abstatten«, schlug ich vor. »Das sollte man sich nicht entgehen lassen, habe ich gehört.«
    Mein Vater ließ sich von der Einzigartigkeit des Kaninchens nicht so leicht überzeugen. Die Schlecht Gezeichnete Karte, das Oz-Denkmal, den Colorgarten und noch dazu das Kaninchen, all das würden wir bis zur Abfahrt unseres Zuges sowieso nicht schaffen, meinte er und wies darauf hin, dass das Museum von Zinnober nicht nur die beste Sammlung von Vimto-Flaschen besäße, sondern montags und donnerstags dort auch ein Grammophon vorgeführt werde.
    »Ein Vierzehn-Sekunden-Clip von Something Got Me Started «, sagte er, als könnte ein vager Hinweis auf den Roten Sänger mich rumkriegen.
    Ich war nicht bereit, so schnell klein beizugeben.
    »Das Kaninchen wird langsam ziemlich alt.« Ich hatte die Sicherheitshinweise in dem Prospekt So wird Ihr Besuch beim Letzten Kaninchen zu einem Erlebnis gelesen. »Und Streicheln ist nicht mehr zwingend vorgeschrieben.«
    »Das Streicheln ist nicht so schlimm«, sagte mein Vater, dem bei der Vorstellung dennoch schauderte. »Es sind die Ohren.« Und er fuhr fort: »Ich bin sicher, ich kann ein produktives und erfülltes Leben führen, ohne jemals ein Kaninchen gesehen zu haben.«
    Er hatte recht, das konnte ich auch. Nur hatte ich meinem besten Freund Fenton und noch fünf anderen versprochen, die Taxazahl des einsamen Tierchens in ihrem
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